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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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sogar die auf dem Bildschirm geöffneten Fenster und die Maus- und Tastatur-Aktivität.
    Diese Aufzeichnungen bieten praktische Anwendungsmöglichkeiten. Bells Hausarzt hat nun Zugang zu detaillierten, fortlaufenden Daten aus dem Leben seines Patienten. Falls Bell keinen Sport treibt oder zu viel Fett zu sich nimmt, registriert das Programm dies. Aber Bell geht es vor allem um die Nachwelt. Für ihn ist MyLifeBits eine Möglichkeit für Menschen, »ihren Nachfahren ihre Lebensgeschichte zu erzählen«. 4 Das Programm versucht das ultimative Sammelwerkzeug des Lebens zu sein. 5 Aber was wird aus den Erinnerungen im voll archivierten Leben? Wenn die Technologie die Rolle unseres Gedächtnisses übernimmt, werden wir uns dann an weniger erinnern? Werden wir unser Leben aus größerer Distanz betrachten? Bell erzählt, wie befriedigend es sei, Erinnerungen »loszuwerden«, sie in den Computer zu übertragen. Susan Sontag hat über das Fotografieren geschrieben, dass es beim Reisen vielen Leute nur darum gehe, »möglichst viele Fotos zu akkumulieren«. 6 Wird das Leben in der digitalen Kultur zu einer Strategie, ein Archiv anzulegen? 7 Junge Menschen formen ihr Leben, um ein beeindruckendes Facebook-Profil zu erstellen. Wenn wir wissen, dass alles in unserem Leben aufgezeichnet wird, werden wir dann ein Leben führen, das wir archiviert sehen wollen?
    Für Bell korrespondiert ein Lebensarchiv mit dem menschlichen Wunsch nach Unsterblichkeit, der uralten Sehnsucht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Aber der Prozess des ständigen Archivierens kann dieses Ansinnen untergraben. Am Ende führen wir womöglich
ein Leben, in dem es nur noch ums Sammeln geht. Eine der Freuden des Lebens besteht darin sich zu erinnern, an die guten und an die schlechten Dinge. Wird das Vorhandensein eines Archivs uns glauben machen, dass die Arbeit des Erinnerns bereits getan sei?
    Als ich im Sommer 2008 nach San Francisco reise, um mit Bell und Gemmell zu reden, hat das formale MyLifeBits-Projekt an Schwung verloren. Bei unserem Gespräch trägt Bell nur kleine Teile seiner Ausrüstung. Er schaltet einen Kassettenrecorder ein. Er macht ein Foto von mir. Er ist seiner Ausrüstung müde geworden. Aber die beiden Wissenschaftler versichern mir – und da gebe ich ihnen recht –, dass die totale Erinnerung populärer sein wird, sobald die Technologie zum Dokumentieren des Lebens weniger lästig sei. In Zukunft wird man nicht mehr mit Kameras herumfummeln und Soundsignale anpassen müssen. Man wird Audio- und Videoaufnahmegeräte tragen, die nicht größer als winzige Schmuckstücke sind, oder irgendwann trägt man sie möglicherweise als Implantat.
    Der Tag mit Gordon Bell bewegt mich. Wir betrachten seine Fotografien, die in komplexen, nach Datum, Thema und Person geordneten Mustern archiviert sind. Wir betrachten E-Mail-Archive, die ein ganzes Berufsleben abdecken. Aber die Ironie meines Besuchs besteht darin, dass wir die meiste Zeit über physische Objekte sprechen: Wir beide mögen schöne Notizbücher, und Bell zeigt mir seine in Japan hergestellten Journale, die mit seinen eleganten Zeichnungen von Computer-Schaltkreisen gefüllt sind. Wir reden über physische Objekte, die Bell aufbewahrt hat; Dinge, die seinem Vater gehörten. An einem Punkt zeigt Bell mir seine vor über fünfzig Jahren am MIT verfasste Doktorarbeit. Sie wurde auf der Schreibmaschine getippt. Sie enthält »Blaupausen« der von ihm entwickelten Schaltkreise – Diagramme, die tatsächlich auf blauem Papier
gezeichnet wurden. Wir beide berühren sie mit einem Anflug von Ehrfurcht. Heutzutage generiert ein Computer solche Diagramme. Aber Bell behandelt die Unterlagen mit der gleichen Ehrerbietung, die ich bei den Briefen meiner Mutter an den Tag lege. Eigentlich sind wir gar nicht bereit, uns von diesen Dingen zu verabschieden.
    Bell ist weiterhin ein enthusiastischer Archivar seines Lebens, aber er gesteht ein, dass es unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben könnte. So vermutet er zum Beispiel, dass sein Projekt das Wesen seines Gedächtnisses verändern könnte. 8 Er beobachtet bei sich eine mangelnde Neugier auf Einzelheiten seines Lebens, die er mühelos im Archiv finden kann. Und er konzentriert sich auf die Dinge, die das Archiv ihm mühelos zur Verfügung stellt. So ist Bell zum Beispiel von einem Bildschirmschoner fasziniert, der sich aus seinem persönlichen Archiv bedient und willkürlich ausgewählte Schnappschüsse zeigt. Fotos von lange zurückliegenden
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