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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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begreifen wir die Bedeutung der Dinge genauso durch das, was wir vergessen, wie durch das, woran wir uns erinnern. Vergessen hat einen Sinn; es liefert Hinweise darauf, wer wir sind. Das, was Proust
sich angestrengt ins Gedächtnis rufen musste, ist wichtiger als das, was ihm mühelos einfiel. Er tastete sich durch Erinnerungen, die er mühsam dem Dunkel der Vergangenheit abringen musste. Künstliche Erinnerung wird der große Gleichmacher sein.
    Bei Microsoft ist der Computerwissenschaftler Eric Horvitz für ein Projekt zuständig – das Life-Browser-Projekt –, das die MyLifeBits-Daten benutzerfreundlicher machen soll, indem man ihnen eine in Mustern angeordnete Form verleiht. Wenn man den Life Browser auf dem Computer installiert, beobachtet die Software, was man tut – welche Dokumente man öffnet, welche E-Mails man beantwortet, welche Web-Suchen man durchführt. Sie zeigt, wer man ist, auf Basis dessen, was man tut. Man kann eingreifen: Zum Beispiel kann man Dinge, die man weniger oft tut, als wichtigste Dinge markieren. Man kann sagen, dass unregelmäßige Anrufe den wichtigsten Menschen gelten. Aber die Software wird dem Benutzer weiterhin vor Augen führen, was sein tatsächliches Verhalten über seine Prioritäten aussagt. Horvitz führt das Programm vor und befiehlt ihm: »Geh zum vierten Juli.« Die Software zeigt uns Fotos von Paraden und Grillpartys anlässlich des amerikanischen Nationalfeiertages. Horvitz sagt über das Programm: »Es entwickelt ein Verständnis dafür, wie man tickt, wie man seine Erinnerungen gliedert, für welche Dinge man sich entscheidet. Es lernt so zu werden, wie man selbst ist, und hilft einem, eine bessere Version von sich selbst zu werden.« 14
    Ich denke an die absichtlich unaufgeräumte Foto-Schublade meiner Mutter. Der Life Browser hätte Unordnung und Widersprüchlichkeit registriert, denn jedes Mal, wenn meine Mutter ein Foto auswählte, erzählte sie eine andere Geschichte. Einige waren wahr, anderen wohnte nur die Wahrheit eines Wunsches inne. Diese Wünsche zu verstehen hat meine Zeit an der Schublade so kostbar gemacht. Gemmell hingegen malt sich aus, wie der Life Browser
und seine künstlich intelligenten Nachfahren ihn von der Bürde persönlichen Erzählens befreien werden: »Ich träume davon, in den Urlaub zu fahren, jede Menge Fotos zu machen, nach Hause zu fahren und dem Computer zu sagen: ›Blogge es‹, damit meine Mutter es sich anschauen kann. Ich muss nichts weiter tun; die Geschichte findet sich im Muster der Bilder.« 15
    Don, einundzwanzig, ein Bauingenieur-Student an einer Uni an der Westküste, möchte ein Lebensarchiv anlegen. Er schießt Fotos mit seinem iPhone, oft hundert am Tag, und lädt sie jeden Abend ins Netz hoch. Er sagt, seine Freunde möchten alles sehen, was er tue, deshalb »stelle ich mein Leben bei Facebook rein. Ich möchte keine Auswahl treffen müssen [bezüglich der Fotos]. Das sollen meine Freunde tun. Ich möchte einfach alles dort drin haben.« Es gibt nichts Überlegtes an Dons Verhalten außer seiner ersten Prämisse: Schieße so viele Fotos wie möglich aus deinem Leben und stelle sie ins Netz. Don ist zuversichtlich, dass »sich ein Bild meines Lebens aus, nun, aus den Bildern meines Lebens ergibt«.
    Don hat noch nie vom Life Browser gehört, ist aber zuversichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis er Zugang zu einer künstlichen Intelligenz hat, die imstande ist, sein Leben »objektiv« zu betrachten. Ihm gefällt die Vorstellung vom dokumentierten, von Algorithmen organisierten Leben. Das unperfekte Facebook-Archiv ist nur ein erster Schritt. Rhonda, sechsundzwanzig, archiviert ihr Leben auch auf Facebook, aber bei ihr ist es mühselige Arbeit. »Fotos zu machen und sie hochzuladen«, sagt sie, »kommt mir wie eine Pflichtaufgabe vor.« Rhonda möchte Dinge im Computer abspeichern, weil sie sich erinnern möchte (»Dann weiß ich genau, was ich getan habe.«) und weil sie vergessen möchte (»Es ist alles da, wenn ich mich mal an irgendetwas Bestimmtes erinnern muss. Wenn es im Computer gespeichert ist, muss ich es mir nicht mehr merken.«). Das ist es, was Gordon Bell ein »sauberes Leben«
nennt – aber einen Unterschied gibt es. In Bells utopischem Bild kommt nach dem Speichern das Herumstöbern und Genießen. Für Rhonda ist der Akt des Abspeicherns bereits eine Art Schlusspunkt. Don und Rhonda sprechen von einer Welt, in der die Technologie bestimmt, an welche Teile unserer Lebensgeschichte
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