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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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schicken könne? Ich packe das Paket und schicke ihr eine SMS: »Bin unterwegs zur Post.« Ich habe Skype heruntergeladen und bin bereit für das unbarmherzige Kameraauge. Doch schon am ersten Tag daheim bekomme ich nostalgische Gefühle. Ich sitze im Keller, umgeben von staubigen Kartons, und suche die Briefe, die meine Mutter und ich uns während meines ersten Jahres auf dem College geschrieben haben. Telefongespräche waren damals teuer. Meine Mutter schrieb mir zwei Mal in der Woche, ich ihr ein Mal. Es waren lange, emotionale, konfliktbeladene Briefe. Wir trennten uns, suchten neue Wege. Nun, vierzig Jahre später, finde ich die Briefe und habe das Gefühl, direkt in das Herz meiner Mutter sehen zu können.
    Während die Tage vergehen, habe ich via Skype und SMS regelmäßig Kontakt mit meiner Tochter. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich verpflichtet, bei unseren heiter-oberflächlichen, mit Informationen vollgepackten Gesprächen immer nett zu klingen und die Dinge schnell auf den Punkt zu bringen. Einmal wird mir beim
Schreiben einer SMS auf schmerzliche Weise meine eigene Sterblichkeit bewusst. Was wird Rebecca in vierzig Jahren von der Gefühlswelt ihrer Mutter wissen, während sie selbst ihren Weg zu etwas Neuem suchte?
    Es fällt mir schwer, heute die von Freude und Sehnsucht erfüllten Briefe meiner Mutter zu lesen. Sie schrieb sie, während sie im Sterben lag und nicht wollte, dass ich davon erfuhr. Zwischen den Zeilen stand, dass sie mir in absehbarer Zukunft keine Briefe mehr schreiben würde. Und einmal in der Woche schrieb ich meiner Mutter einen Brief, in dem ich das erzählte, was sie von meinem Leben wissen sollte. Einige bedeutsame Dinge ließ ich aus. Aber vieles habe ich ihr mitgeteilt. Sie war mein Prüfstein, und ich wollte, dass sie mich verstand. In meinen Briefen versuchte ich den Raum für diesen Dialog zu schaffen.
    Die Kurznachrichten und die Skype-Präsenz meiner Tochter lassen keinen solchen Raum. Liegt die oberflächliche Heiterkeit unserer Unterhaltungen an unserer Beziehung oder an den Medien, die wir benutzen? Durch Rebeccas Schulfreundinnen kenne ich viele Mütter, deren Töchter gerade mit dem College beginnen oder sich auf einen einjährigen Aufenhalt fernab von zu Hause begeben. Ich spreche mit ihnen über ihre Erfahrungen und darüber, welche Rolle die Technologie dabei spielt.
    Die Schilderungen der Mütter ähneln einander. Sie beginnen zunächst mit einer Lobpreisung der modernen Kommunikationstechnologie: Die Mütter geben an, sich öfter mit ihren Töchtern auszutauschen, als, wie eine Frau es ausdrückt, »ich je zu hoffen wagte«. Sie verwenden vor allem Kurznachrichten und Skype. Nur ganz wenige geben an, gelegentlich eine E-Mail zu erhalten. Da Skype eine Art Bildtelefon ist, erklären die Mütter erkennen zu können, ob ihre Töchter gesund aussehen. Alle sind hochgradig nervös, machen sich Sorgen wegen der Schweinegrippe. Einigen missfällt der Umstand,
dass ihre Töchter sie sehen können. Die Mütter sind Ende vierzig bis Anfang sechzig und überhaupt nicht erfreut, sich vor das umbarmherzige Kameraauge setzen zu müssen. »Ich schminke mich nicht mehr für Skype«, sagt eine. »Es wurde langsam lächerlich.« Andere erklären, es sei wichtig, vor einem Skype-Gespräch Make-up aufzulegen: »Ich möchte gut aussehen, möchte, dass meine Tochter mich in bester Verfassung erlebt. Sie soll sich keine Sorgen machen.«
    In den Berichten der Mütter liegt einige Wehmut. Eine der Frauen erzählt: »Es ist etwa so wie der wöchentliche Nachrichtenrückblick, nur dass es die Nachrichten des Tages sind. Aber obwohl ich immer auf dem neuesten Stand bin, habe ich nicht das Gefühl zu wissen, was wirklich bei ihr vorgeht, wie sie sich wirklich fühlt.« Eine andere Mutter: »In einer Kurznachricht kann man leicht lügen. Ich weiß nie, wo sie wirklich ist, ob sie wirklich zu Hause ist. Sie könnte sonstwo sein und mir eine SMS schicken. Oder mich mit ihrem iPhone via Skype anrufen. Beim Festnetz wusste man noch, dass das eigene Kind dort ist, wo es sein sollte.« Eine Mutter teilt meine Meinung, dass Skype-Gespräche unerklärlich oberflächlich seien. Im Gegensatz zu mir führt sie es auf die technischen Mängel ihrer Internet-Verbindung zurück. »Es ist, als würden wir uns anbrüllen, um verstanden zu werden. Die Leitung stürzt ab. Ich brülle in den Computer.« Für diese Mutter wird es sogar noch oberflächlicher, wenn sie und ihre Tochter Kurznachrichten
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