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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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Gesellschaft anderer Menschen begeben. Wir wissen, was Thoreau diesbezüglich getan hat. Er hielt Abstand, suchte und fand Verbundenheit mit der Natur und einfachen Dingen. Er traf alte Freunde und gewann neue. All das stärkte ihn, denn er führte kein »dichtes« Leben. Brad beschließt letztlich, sein digitales Leben zu verlassen, um sein eigener persönlicher Walden zu sein. Wenn er einen Freund treffen möchte, ruft er an, verabredet sich und stattet ihm einen Besuch ab. Er sagt, das Leben beginne sich wieder natürlicher anzufühlen. »Menschen lernen sprechen und sich in die Augen zu schauen, bevor sie lernen, mit einer Tastatur umzugehen, deshalb halte ich Ersteres für die grundlegende, fundamentale Kommunikationsart«, konstatiert Brad. Auf die digitale Verbundenheit zu verzichten bedeute, so Brad, »drei gehaltlose Gespräche gegen eine wirklich nette soziale Aktivität mit einer einzigen Person einzutauschen«. Er räumt ein, dass »der Verzicht auf computergestützte Kommunikation die Menge an Sozialkontakten begrenzt, die man pro Tag haben kann«, aber er bedauere diesen Verlust nicht: »Ich habe lieber fünf wirklich Freunde, die mir nahestehen, als dreißig Internet-Bekanntschaften, die sich als sogenannte Freunde bezeichnen.«

    Ich begegne anderen Jugendlichen wie Brad, die sich freiwillig eine Medien-»Fastenzeit« auferlegen. Einige hören auf, SMS zu schreiben, andere lassen die Finger von Instant Messages. Weil es für das soziale Leben so zentral ist, besteht der maßgebliche Schritt darin, Facebook zu verlassen. 6 Einige von ihnen sind, wie Brad, erschöpft vom Druck, sich selbst darzustellen. Andere sagen, sie fänden sich »grausam« – das Online-Leben unterdrückt gesunde Hemmungen. Wieder andere haben festgestellt, dass sie den Kontakt zu ihren »realen« Freunden verlieren, während sie stundenlang ihre Kontakte in den sozialen Netzwerken pflegen. Einige, aber noch nicht viele, rebellieren gegen den Umstand, dass Facebook – buchstäblich  – ihre Lebensgeschichte besitzt. Einige glauben, Facebook würde dazu verleiten, sich selbst und andere Menschen auf oberflächliche Weise zu beurteilen. Sie zerbrechen sich den Kopf darüber, welche Fotos sie von sich hochladen. Sie bearbeiten ihre Facebook-Fotos, um besser auszusehen. Doch trotz all dieses Aufwandes ist die Facebook-Seite letzlich eine Fiktion, die vorgaukelt, dass der Inhalt mit einer Art aristokratischer Lässigkeit erstellt wurde. Luis sagt: »Es ist wie mit einem Mädchen, das zu stark geschminkt ist und sich zu viel Mühe gibt. Eigentlich soll es auf Facebook ja so aussehen, als hätte man sich nicht viele Gedanken gemacht. Aber keiner glaubt an das Märchen: ›Oh, ich hab nur schnell ein bisschen Zeug hochgeladen … Ich bin total cool. Ich hab so viele andere Sachen zu tun.‹ Man sieht, dass diese Leute den ganzen Tag auf Facebook sind. Wem wollen die eigentlich etwas vormachen?« Sein Tonfall wird wehmütig: »Es muss schön gewesen sein, als man einen Menschen einfach durch eine persönliche Unterhaltung kennen gelernt hat.« Aus all diesen Gründen empfinden viele Heranwachsende den Ausstieg als immense Erleichterung.
    Die Gründe für diese Verweigerung – einen direkteren Weg zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu finden, ein weniger
künstliches Leben ohne Selbstdarstellung zu führen, ein Leben, das sich realer anfühlt – klingen wie die, die Henry David Thoreau vor fast zwei Jahrhunderten an den Walden-Weiher führten.
    Walden 2.0
    In dem Essay über seinen zwei Jahre währenden Rückzug schreibt Thoreau: »Ich ging in die Wälder, weil ich ein wahrhaftiges Leben zu führen wünschte, mich nur den grundsätzlichen Anforderungen des Lebens stellen und herausfinden wollte, ob ich nicht etwas daraus zu lernen vermochte und auf meinem Sterbebett nicht entdecken wollte, dass ich überhaupt nicht gelebt hatte. Ich wollte kein Leben leben, das keines war; das Leben ist so kostbar. Ebenso wenig wollte ich mich der Resignation hingeben, außer es wäre unabdinglich.« 7 Thoreaus Sinnsuche inspiriert dazu, sich über unser technologisiertes Leben zu fragen: Führen wir ein wahrhaftiges Leben? Wenden wir uns von einem Leben ab, das keines ist? Verweigern wir uns der Resignation?
    Einige glauben, dass die neue Konnektivitätskultur bereits einen digitalen Walden-Weiher beinhaltet. Eine Fünfzehnjährige bezeichnet ihr Telefon als Rückzugsort: »Mein Handy«, sagt sie, »ist meine einzige individuelle Zone, sie
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