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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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gehört nur mir.« Der Technologie-Autor Kevin Kelly, erster Herausgeber des Magazins Wired , erklärt, dass er das Netz nutze, um sich zu erfrischen. In dessen kühlem Schatten tanke er wieder auf. »Manchmal gehe ich ins Netz, nur um mich zu verlieren. Bei dieser wohltuenden Selbstaufgabe verschluckt das Netz meine Gewissheit und liefert das Unbekannte. Trotz der zielgerichteten Entwicklungsarbeit seiner menschlichen Schöpfer ist das Netz eine Wildnis. Seine Grenzen sind unbekannt, unerkennbar, seine Geheimnisse mannigfaltig. Das Sammelsurium aus Ideen,
Links, Dokumenten und Bildern erzeugt eine Andersartigkeit, die so dicht ist wie ein Dschungel. Das Netz riecht nach Leben.« 8
    Aber nicht jeder fühlt sich erfrischt wie Kelly. Brad spricht von den »Wegwerf-Freundschaften« des Online-Lebens. Hannah fragt sich, was es ihr letztlich gebracht hat, so viel Zeit mit einer kleinen, sarkastischen Gruppe von Leuten und mit einem besten Freund verbracht zu haben, der sich, wie sie befürchtet, einfach nicht mehr melden wird. Es ist schwer zu akzeptieren, dass Online-Freunde nicht Teil des eigenen Lebens sind; sie können einfach unangekündigt verschwinden, so wie man selbst sie auch einfach verschwinden lassen kann. Die Unsicherheit über den Wert von Internet-Freundschaften bringt Menschen dazu, die ursprüngliche Art von Freundschaft wieder schätzen zu lernen. Die Möglichkeit, ständig miteinander in Verbindung zu stehen bringt die Leute dazu, ein bisschen Freiraum für sich selbst wertzuschätzen. Pattie, vierzehn, trägt kein Handy mehr bei sich. »Es ist ein gutes Gefühl«, sagt sie, »dass mich niemand erreichen kann.«
    Dieser Freiraum könnte einem Heranwachsenden helfen, etwas länger Kind zu bleiben. Eines der Privilegien der Kindheit besteht darin, dass ein Teil des Lebens von den Eltern geregelt wird. Hillary nimmt sich eine lange Auszeit von ihrem Handy. »Ich mag es nicht, ständig erreichbar zu sein … alles sofort zu erfahren.« Für ein Kind – und auch Jugendliche sind noch Kinder – besteht einer der Nachteile andauernder Konnektivität darin, dass die Eltern ihre Fähigkeit als Puffer gegen die Welt einbüßen. Vor wenigen Monaten war Hillary auf einer Party, um die Veröffentlichung eines neuen Harry-Potter-Bandes zu feiern, als ihr Vater einen Schlaganfall erlitt. Sie erfuhr davon erst, als sie wieder zu Hause war. Ohne Handy erreichte die traurige Nachricht sie erst in Gegenwart ihrer Familienangehörigen, die es ihr schonend beibringen konnten. Sie hätte es gar nicht allein, mit einem Handy in der Hand, erfahren wollen.

    Hillary mag Filme, fühlt sich aber »zum Amish-Leben hingezogen, abzüglich einiger Ausnahmen [das dürften die Filme sein] … aber ich hätte nichts dagegen, wenn es das Internet nicht mehr gäbe«. Sie fragt: »Was könnten die Leute alles tun, wenn sie nicht ständig im Netz wären?«, und beantwortet die Frage gleich selbst: »Klavierspielen, Zeichnen, es gibt alles Mögliche, was sie erschaffen könnten.« Hillary schildert, wie anstrengend es ist, »auf all den verschiedenen Webseiten immer auf dem neuesten Stand zu bleiben« und wie viel Zeit es kostet, »Facebook zu füttern«. Diese ermüdende Arbeit lasse wenig Raum für Kreativität und Reflexion. »Das alles lenkt nur ab.« Es bleibt nicht viel Raum übrig für das, was Thoreau ein wahrhaftiges Leben nannte.
    Es gibt nichts Wohlüberlegteres als ein mühevoll erstelltes Profil oder ein via Instant Messenger geführtes Gespräch, bei dem man seine Gedanken auf- und umschreibt. Und doch lässt man sich die meiste Zeit im Netz einfach treiben und experimentiert herum, folgt Links und streckt wahllos seine Fühler aus. Man klickt sich durch die Fotoalben seiner Freunde – und dann durch die Alben von deren Freunden. Man schreibt Kommentare über Beiträge von Leuten, die man kaum kennt. Thoreau kritisierte, dass Menschen zu schnell ihre Meinung kundtun. Die sozialen Netzwerke instruieren uns, etwas zu verkünden, sobald es uns »in den Sinn kommt«, egal, wie ignorant oder schlecht durchdacht es ist, und es dem größtmöglichen Publikum zugänglich zu machen. Jeden Tag wird jeder von uns mit den willkürlichen Gedanken anderer Menschen bombardiert. Wir beginnen diese Sturzflut als natürlich zu empfinden. Obwohl also die Identitätskonstruktion im Netz wohlüberlegt beginnt, haben viele Leute nach der Erstellung eines Profils oder Avatars das Gefühl, dass der einzig wahrhaftige Akt dabei die Entscheidung
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