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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Enger
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selten mit Alkohol vergiftet hat, spürt langsam, wie die Polizeiarbeit an ihm zehrt. An ihnen, an ihm und seiner Familie, mit der er nur noch selten zusammen aufsteht oder ins Bett geht. Und wenn er einmal zu Hause ist, ist er in der Regel so groggy, dass er auf nichts mehr Lust hat. Dann will er einfach nur abschalten. Und das am liebsten allein.
    Er hat es noch niemandem gesagt, nicht einmal seiner Frau Anita, dass er ein Gesuch an die Polizei in Vestfold gestellt, es aber noch nicht abgeschickt hat. Für eine sechsmonatige Vertretung als Ermittlungsleiter, Beginn: nächsten Monat. Der jetzige Chef will eine Auszeit nehmen, um ein Buch zu schreiben. Bestimmt einen Krimi.
    Er hat keine Ahnung, wie Anita es aufnehmen wird, sollte er diesen Job bekommen. Auf jeden Fall würde das bedeuten, dass er noch häufiger und länger von zu Hause weg wäre, von ihr und Alisha und dem Familienleben, das ihr so wichtig ist.
    Opfert er nicht so schon genug?
    Er sieht es in den Augen seiner Tochter und hört es in den Gesprächen am Küchentisch, wenn sie mal alle drei zu Hause sind. Er bekommt zu wenig von ihr mit, weiß nicht, was sie im Kindergarten lernt oder mit wem sie sich umgibt. Wer böse und wer nett zu ihr ist. Es ist nicht leicht, klein zu sein, das weiß er noch aus seiner eigenen Kindheit. Es ist aber auch nicht leicht, Papa zu sein. Auf jeden Fall nicht Papa und Polizist.
    Am Abend zuvor hat Alisha ihm die Gnade erwiesen, sie zu Bett bringen zu dürfen, nachdem er vorher noch ein bisschen mit ihr gespielt hat. Er hatte ihr ein paar Kapitel aus einem der Karsten-und-Petra-Bücher vorgelesen und ihr den Rücken gekrault. Sie liebt das. Als sie endlich zur Ruhe kam, durfte er jedoch nicht neben ihr liegen bleiben. Dieses Privileg hat nur Anita.
    Es spielt keine Rolle, wie viel Unsinn er macht, vorliest und krault. Er wird immer die Nummer zwei bleiben. Natürlich ist auch das ein guter Platz, nur dass es Bjarne noch nie gefallen hat, an zweiter Stelle zu stehen.
    Der Tag müsste mehr Stunden haben, denkt er und biegt in Richtung Grønland ab. Wenn er sich Zeit kaufen könnte, würde er eine ganze Palette davon bestellen. Dann könnten sie ins Legoland fahren, in den Sommerferien zum Baden ins Sørland, und er würde wandern und fischen gehen. Und Anita die Kinderschar schenken, die sie sich wünscht.
    Aber wenn er diesen Job meistern will, muss er ihn mit ganzer Seele machen, dann muss er diesen Job leben. Der Job sein. Und der Job muss er sein. Vollständig.
    Inzwischen sind sie beide knapp vierzig. Die Zeit läuft ihm zwar noch nicht weg; an ihr geht sie aber definitiv nicht spurlos vorüber. Was genau das bedeutet, haben sie noch nicht thematisiert, vermutlich hat ihnen die Zeit dazu gefehlt.
    Bjarne hat Anita Mitte der Neunzigerjahre auf der Sporthochschule getroffen. Sie war im Kurs unter ihm und eigentlich gar nicht sein Typ. Sie mochte Aerosmith und Serien wie Beverly Hills, 90210 und Melrose Place, war zwei undzwanzig Zentimeter kleiner als er und spielte noch dazu Fußball. Aber mit ihren schulterlangen blonden Haaren, dem etwas schiefen Schneidezahn und ihrem ansteckenden Lachen kam sie ihm einfach unwiderstehlich vor. Ihr nordisch schroffer Charme. Er musste sie ganz einfach haben.
    Anfangs widerstand sie seinen Annäherungsversuchen, in erster Linie weil sie bereits einen Freund hatte, doch dann überraschte sie ihn, weil sie ihre Meinung änderte. Sechs Jahre später heirateten sie. Aufgrund von Bjarnes Arbeit wohnen sie inzwischen in einer Doppelhaushälfte im Tennisveien in Slemdal und fahren einen Volvo Kombi mit einem Keilriemen, der permanent quietscht. Sie haben keine Sommerhütte und auch keinen Hund, dafür aber ein Kind, für das er sich bereitwillig vor jeden Zug werfen würde, um es zu schützen. Nummer zwei hin oder her.
    Du hast Glück gehabt, sagt er zu sich selbst und sieht, wie der Asphalt sich vor ihm grau in die Länge zieht. Er sieht Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Fahrradfahrer, die todesverachtend über rote Ampeln strampeln, Fußgänger mit angespannten Gesichtern. Der Wind schubst sie hin und her. Bjarne spürt die Böen sogar im Auto. Über dem spitzen Dach des Oslo Plaza nähert sich bereits das nächste Unwetter.
    Es wird ein kalter Tag, denkt Bjarne, hoffentlich auch ein produktiver, denn am Vorabend haben sie nicht gerade viel über das dreiundachtzigjährige Opfer herausfinden können. Witwe, ehemalige Lehrerin, geboren und aufgewachsen in Jessheim, Anfang der Neunziger nach
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