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vergissdeinnicht

vergissdeinnicht

Titel: vergissdeinnicht
Autoren: Cat Clarke
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die Schulter, und dort blieb sie, während ich weinte. Als keine Tränen mehr kamen, nahm ich die Gabel und fing an zu essen. Ich schaffte nur ein paar Bissen. Ich musste mit Cola nachspülen, um nicht daran zu ersticken. Ethan saß auf meinem Bett und betrachtete mich.
    »Wie geht es dir?«, fragte er.
    »Warum machst du das mit mir?«
    »Du musst essen. Dann geht’s dir besser.«
    »Warum machst du das mit mir?«
    »Grace …« Er sah mich beschwörend an.
    »Ich will dich hier nicht. Geh bitte.«
    Er ging.

Tag 11
    Gestern Nacht träumte ich von Sal. Keine wirkliche Überraschung.
    Sie war hier bei mir, und wir saßen uns am Tisch gegenüber. Ethan lehnte an der Wand und beobachtete uns. Sal und ich sprachen über etwas Wichtiges, und Ethan wiederholte jedes einzelne Wort, das ich sagte. Es ging mir auf die Nerven, und ich sagte ihm, er solle gehen. Und schon war Ethan weg. An seiner Stelle erschien Nat. Ein selbstzufriedener Nat, der zu viel grinste. Sal war genervt und schickte ihn weg. Ich lächelte Sal an und griff nach ihrer Hand, aber sie verwandelte sich in Ethan und sagte: »Ich denke, wir sind ein Stück weitergekommen, Grace.« Dann wachte ich auf und wünschte mir, Traummenschen wären wenigstens so höflich, dieselben Traummenschen zu bleiben und nicht so verwirrend zu sein.
    Ich denke, ich mache einfach da weiter, wo ich gestern aufgehört habe, um den gesamten Lebenszyklus dieser Freundschaft darzustellen. Nachdem ich Sal vom Ritzen erzählt hatte, lief alles eine Zeit lang ganz gut. Aber ich bemerkte, dass sie mich anders ansah als früher. Es war, als würde sie ständig versuchen, meine Stimmung einzuschätzen. Wenn ich zum Beispiel mal wieder grundlos eine meiner Launen hatte (was nicht gerade selten vorkam), legte sie den Kopf schief und sah mich nachdenklich an. Ich konnte praktisch hören , wie sie sich fragte, ob ich mich ritzen würde. Sal dachte bestimmt, sie wäre total unauffällig, aber ich erwischte sie oft genug, wie sie nach neuen Schnitten Ausschau hielt (und nie welche entdeckte). Es machte mir gar nicht so viel aus. Sie verhielt sich genau so, wie sich eine beste Freundin verhalten sollte. Es war schön.
    Ab und zu versuchte sie, mich zum Reden zu bringen – warum ich es tat. Ich hörte mir ihre Theorien an und wechselte dann das Thema. Warum muss denn alles einen Grund haben? Manche Dinge sind einfach so.
    Unsere Freundschaft schien wohl etwas in Schieflage geraten zu sein: Ich ganz selbstmitleidig und Sal die meiste Zeit damit beschäftigt, nach mir zu sehen. Sie kümmerte sich wirklich oft genug um mich, wenn ich mal wieder das Klo von einem miesen Club vollkotzte. Und sie blickte auf eine nette Reihe an Rettungsaktionen, wenn ich dabei war, etwas zu tun, das ich wahrscheinlich bereuen würde, mit jemandem, den ich garantiert bereuen würde.
    Ich fühlte mich nicht wirklich toll in der Rolle der jämmerlichen hilfsbedürftigen Freundin, aber Sal schien sich um mich kümmern zu wollen. Und vielleicht brauchte ich es, dass sich jemand um mich kümmerte.
    Alles veränderte sich vor ein paar Monaten.
    Ich war in Glasgow, um über Ostern meine Großmutter zu besuchen. Ich hatte eine echt gute Zeit: ein bisschen Shopping, eine Menge Lesen, nette lange Gespräche bei einer guten Tasse Tee. (Es war immer eine gute Tasse Tee, nie eine normale.) Ich kam mit richtig guter Laune und ein paar Geschenken aus Sals Heimat zurück: einem knuffigen Loch-Ness-Monster und einer schottischen Dudelsackpuppe mit total gruselig starren Augen.
    Die Sal, die ich vorfand, war nicht die Immer-optimistische-kleine-Sonnenschein-Sal, von der ich weggefahren war. Oh, es war nicht gleich offensichtlich. Sie lachte über meine Geschenke und hörte sich ganz interessiert meine spannenden Urlaubsgeschichten an. Aber irgendwas war anders – ich wusste es. Es war kaum wahrnehmbar, so wie wenn man die Bildeinstellungen am Fernseher verändert hat. Sie war irgendwie dumpfer, blasser. Sie schien nicht traurig oder deprimiert oder besorgt oder irgendwas zu sein, was man benennen konnte. Sie war nur nicht mehr Sal.
    Ich fragte sie fast sofort, was los sei, als wir uns wiedersahen, aber sie versicherte mir, alles sei okay. Ich wusste, dass sie nichtdie Wahrheit sagte, also bohrte ich weiter, bis ich merkte, dass sie genervt war. Ich dachte mir, sie würde es mir schon erzählen, wenn sie so weit wäre. Ich wusste nicht, wie lange ich darauf warten musste.
    In den nächsten Wochen lief alles mehr oder weniger normal.
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