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vergissdeinnicht

vergissdeinnicht

Titel: vergissdeinnicht
Autoren: Cat Clarke
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glücklich war. Natürlich war ich das. Aber es waren nur flüchtige Momente, die längst vorbeigezogen waren, bevor ich sie richtig zu schätzen wusste.
    Ich sah mich nach etwas um, das mich von meinem Aufsatz ablenkte. Ich zeichnete meine Hand nach und malte die Fingernägel mit einem roten Kugelschreiber aus. Ich öffnete die Schreibtischschublade und wühlte ein wenig darin herum. Ich fand Dads Schweizer Messer. Ich klappte alles aus und fand eine Pinzette, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass sie da war. Als Letztes öffnete ich das große Messer. Scharf und glänzend und seltsam anziehend auf eine Art, die ich nicht ganz verstand.
    Ich drückte die Klinge leicht gegen meinen Daumen – nicht so fest, dass es blutete. Huh. Unbefriedigend.
    Ich zog die Klinge über meinen Unterarm – fest. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als hätte sich nicht wirklichwas getan. Da war nur eine Eindellung in der Haut. Aber dann quoll das Blut richtig schnell heraus. Es war so rot. Und da war so viel davon. Besser. Viel besser.
    Es war faszinierend. Ich hielt meinen Arm hoch und sah zu, wie das Blut tropf tropf topf in meine Armbeuge lief. Ein oder zwei Tropfen zerplatzten auf dem Schreibtisch. Ich fühlte mich seltsam und schwummrig – vor allem aber gut.
    Etwas Schmerz. Aber ein guter Schmerz, ein klarer Schmerz.
    An diesem Abend ritzte ich mich nur einmal. Keiner bemerkte es. Ich renne ja auch nicht rum und halte jedem meine Arme zur Inspektion unter die Nase.
    Nach diesem Abend ritzte ich öfter. Ich häufte eine ziemlich gute Sammlung an Narben an.
    Ich wurde besser darin, die richtigen Stellen zum Ritzen zu finden, die zornigen roten Schnitte vor der Welt zu verstecken. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich Narben behalte. Hätte ich wirklich nicht gedacht.
    Für mich sind die Narben offensichtlich. Sie treten hervor, als würden sie schreien: »Schaut sie euch an! Seht, was diese Verrückte sich antut!«
    Obwohl es mehr ein Flüstern ist für jeden, der zuhört.
    Sal hörte zu.
    Sie saß mir gegenüber mit gekreuzten Beinen wie eine Siebenjährige bei der Schulversammlung. Ich wusste , dass sie mich mit einer Mischung aus Sorge, Mitleid und vielleicht noch etwas anderem (Horror?) ansah. Aber ich schaute sie nicht an, um das zu überprüfen. Konzentrierte mich nur richtig richtig fest auf die Bettdecke. Roter Streifen, weißer Streifen, roter Streifen, weißer Streifen. Rot. Weiß. Rot.
    Als ich mit meinen unzulänglichen Erklärungen fertig war und Sals Fragen beantwortet hatte (genauso unzulänglich), nahm sie meinen Arm in ihre Hände und sah ihn sich an. Sah ihn sich wirklich an. Mein Unterarm war dem grellen Oberlicht ausgesetzt. Die Narben schienen noch mehr herauszustechen als je zuvor.Sie berührte sie mit ihren Fingerspitzen und murmelte: »Was hast du dir nur angetan?«
    Ich fand keine Worte. Nicht mal einen klugscheißerischen Witz. Es kamen nur Tränen.
    Ich weinte mehr, als ich jemals vor einem echten, lebenden Menschen geweint hatte. Sal umarmte mich und streichelte mir übers Haar und sagte, alles würde gut werden. Ich weinte, bis mein Gesicht unglaublich rotfleckig und verquollen war und ich einschlief.
    Als ich aufwachte, war es dunkel. Sal lag hellwach neben mir. Ich entschuldigte mich dafür, so eine Szene gemacht zu haben und versuchte, das Ganze runterzuspielen. Ich schämte mich fürchterlich. Normalerweise verliere ich nie so die Kontrolle.
    Sal stützte sich mit dem Ellenbogen auf und sah mich richtig ernst an. »Ich denke, du brauchst Hilfe, Grace«, flüsterte sie. Ich fand die Idee echten Horror. Wir diskutierten eine Weile herum, bis sie merkte, dass sie bei mir nicht weiterkam.
    Sie brachte mich dazu, ihr zu versprechen, dass ich a) es nicht mehr tun würde und b) sie anrufen würde, sobald ich das Gefühl hatte, es wieder tun zu wollen . Sie sagte, sie wäre jederzeit für mich da, Tag und Nacht.
    Ich glaubte wirklich, dass a) und b) absolut möglich waren.
    Irgendwie war ich froh, dass ich es ihr gesagt hatte. Es tat gut, dieses Geheimnis zu teilen. Aber ich fühlte mich dumm und jämmerlich und schämte mich gleichzeitig.
    Sal und ich waren uns an diesem Abend so nah wie nie gekommen. Mein dreckiges kleines Geheimnis schweißte uns zusammen. Das war vor gut neun Monaten.
    * * *
    Ethan ist gerade gegangen.
    Er kam, als ich heulend am Tisch saß. Er brachte mein Tablett rüber und sammelte das Papier ein und legte es auf den Boden. Erlegte mir ganz sachte seine Hand auf
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