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Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet
Autoren: Thomas Enger
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Zeitungen und Zetteln auf dem Küchentisch wirft. Als er sich an seinen Laptop setzt, stößt er mit dem Fuß gegen das Tischbein, sodass der kalte Kaffee fast aus der schmutzigen Tasse schwappt. Langsam klappt er den Bildschirm auf. Eine alte Version der Homepage von 123nyheter öffnet sich, die gleich darauf aktualisiert wird. Henning wirft einen Blick auf die Top-News, scrollt sich dann nach unten und registriert schnell, dass im Laufe der Nacht nichts Besonderes passiert ist. Hitzewelle über Europa. Russland geht davon aus, dass der Iran in Kürze über die Atombombe verfügt. Zwei Schwerverletzte bei einem Autounfall in der Hedmark. Eine Frau, die er schon einmal gesehen hat, wenn er auch nicht weiß, in welchem Zusammenhang, ist ihre Silikonbrüste leid.
    Unwillig wirft Henning auch einen Blick auf die Webseiten der Konkurrenz, findet aber überall nur die gleichen Neuigkeiten. So beginnen seine Tage, und so war das auch schon vor Jonas’ Tod.
    Dass das jetzt schon bald zwei Jahre her ist!, denkt Henning. Für die meisten sind zwei Jahre eine Ewigkeit, eine dichte Abfolge aus Augenblicken und Erinnerungen, doch für ihn sind diese zwei Jahre rein gar nichts. Eine ergebnislose Zeit, in der er nicht eine einzige Spur hat finden können. Wie viel leichter wäre es, wenn er sich nur an die Tage und Wochen vor dem Feuer erinnerte!
    Von einem Papierstapel starrt ihn Mikael Vollan an, der Mann, der hundertdreiundfünfzig Millionen Spam-Mails über ein unter falschem Namen gegründetes Büro an Firmen und Privatpersonen verschickt hat. Vollan bewarb darin Pyramidenspiele und anderen falsche Träume, um den Menschen das Geld für etwas aus der Tasche zu ziehen, das es gar nicht gab. Henning war all die Spam-Mails so leid geworden, dass er sich entschlossen hatte, der Sache nachzugehen. Er wollte wissen, wer dahintersteckte und was er oder sie dadurch verdiente. Gemeinsam mit 6tiermes7 , Hennings anonymer Quelle bei der Polizei, und seinem guten Freund, dem Hacker Atle Abelsen, war es ihm gelungen, Vollans Netzwerk zu entflechten. Als sie die wichtigsten Informationen beisammen hatten, überließ Henning die Ermittlungen der Lotterieaufsicht, dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität und später sogar dem Kriminalamt Kripos. Als Gegenleistung erhielt er alle weiteren Informationen ein paar Stunden, bevor der lange Arm des Gesetzes zuschlug. Vollan wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und musste darüber hinaus alle an ihn geleisteten Zahlungen erstatten.
    Henning studiert die Ausdrucke noch einmal, bevor er sie zur Seite legt und seufzt. Vollan hat vor Gericht Reue gezeigt, ja irgendwie sogar erleichtert gewirkt, dass jemand seinem Wirken ein Ende bereitet hat. Ich war wie besessen , hat er selbst gesagt. Außerdem habe er gar nicht mehr die finanziellen Möglichkeiten gehabt, irgendjemanden auf Henning oder Jonas anzusetzen.
    Missmutig fährt Henning sich mit den Händen über das Gesicht. Irgendwann wird etwas auftauchen, sagt er zu sich selbst. Es muss einfach so sein.
    4
    Tore Pulli pflegte sein Spiegelbild in der Regel mit einer gewissen Genugtuung zu betrachten. Seine ultrakurzen Haare und die glänzenden hellblauen Augen gefielen ihm. Die kräftige Nase und der dichte, wohlfrisierte Bart. Das spitze Kinn, das niemand traf, ohne das seine anschließend zerschmettert zu bekommen. Die Ketten an seinem Hals. Die eng sitzenden Klamotten. Er mochte die Wölbungen seiner Muskeln, das Anschwellen der Adern unter der tätowierten, sonnengebräunten Haut. Niemand sollte daran zweifeln, dass man sich mit Tore Pulli besser nicht anlegte.
    All das sieht er jetzt nicht mehr. Seine Kleider sitzen längst nicht mehr so straff an seinem Körper. Und die allseits gefürchtete und verhasste komprimierte Energie und Explosivität, die ihn ausgemacht hat, ist inzwischen nur noch eine ferne Erinnerung.
    Pulli dreht den Hahn auf und lässt das Wasser rinnen, bis es kalt ist. Dann beugt er sich vor und taucht sein Gesicht in die kalten, nassen Hände. Er reibt sich die Augen, fährt sich mit den Fingern über Wangen, Stirn, Schläfen und Schädel, ehe er sich mit einem weißen Handtuch abtrocknet. Bist du bereit?, fragt ihn das Gesicht im Spiegel. Willst du das wirklich tun?
    Veronica erwidert seinen Blick von der Korkpinnwand aus. Wie immer sieht sie ihn mit ihrem jugendlichen, unglaublich schönen Lächeln direkt an. Und wie immer fragt er sich, wie sie das aushält.
    Pulli setzt sich auf das schmale Kiefernbett, platziert
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