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Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet
Autoren: Thomas Enger
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endlich ankamen. Er wollte sich hinten auf den Schlitten setzen, aber Jonas hielt ihn zurück.
    »Du nicht, Papa! Nur ich.«
    »Okay, dann musst du den Schlitten anschließend aber auch allein nach Hause ziehen.«
    »Mach ich.«
    »Versprichst du das?«
    »Jaaaaa!«
    Henning wusste, dass die nassen Schneeflocken eine längere Lebensdauer hatten als das Versprechen, das Jonas ihm gerade gegeben hatte. Aber was machte das schon?
    »Schiebst du mich an, damit ich richtig, richtig schnell bin?«
    »Okay, aber halt dich fest. Auf drei!«
    Dann zählten sie zusammen: » EINS , ZWEI ! Uuuuund DRRRRREI !«
    Henning gab Jonas einen kräftigen Stoß und hörte den Jungen vor Freude juchzen, als er losfuhr. Er registrierte auch die Blicke der anderen Kinder, ihnen gefiel der Anblick des kleinen Kerls mit der hellblauen Mütze, der auf die kleine Schanze zufuhr, die jemand am Hang gebaut hatte. Er traf sie wirklich, bekam etwas Höhe, landete aber gleich wieder und schrie fröhlich auf, während er das Lenkrad zur Seite drehte, um nicht mit einem Mädchen zusammenzustoßen, das ihm entgegenkam. Es drehte sich um und sah Jonas nach, der immer mehr nach links kurvte.
    Genau auf einen Baum zu.
    Auch Henning sah, welchen Weg der Junge eingeschlagen hatte, die kleinen Hände fest um das Lenkrad gelegt. Henning begann, über den Hang nach unten zu stürmen, aber seine Füße fanden keinen Halt, sodass er ausrutschte und sich ein paarmal um sich selbst drehte, ehe er sich wieder fing.
    Die Schneeflocken, das Stimmengewirr und der Lärm um ihn herum verloren an Stärke, als Henning seine Lippen zu einem Ruf formte. Aber es kam kein Laut. Verzweifelt starrte er auf diverse Eltern, die wie erstarrt dastanden und einfach zusahen. Dann schloss er die Augen. Er wollte nicht sehen, was geschah. Wollte seinen Sohn nicht sterben sehen. Nicht noch einmal.
    Dann war Jonas weg. Ebenso der Hang, der Schnee, die Bäume und die Menschen. Um ihn herum nichts als Dunkelheit. In seiner Nase hängt der unverkennbare Geruch von Rauch. Und obgleich er Jonas nicht sehen kann, hört er seine Rufe nur allzu deutlich. Panisch wedelt Henning mit den Armen durch die Luft, um ein Loch in die Dunkelheit zu schlagen, die vor ihm aufwirbelt, aber es nützt nichts. Unglaubliche Hitze schlägt ihm entgegen. Er kann kaum noch atmen und beginnt zu husten.
    Durch den Rauch sieht er schließlich einen Streifen Licht. Henning kneift die Augen zusammen und fokussiert die immer größer werdende Öffnung. Etwas weiter hinten erkennt er eine Tür, eine Tür, die langsam, aber sicher ein Opfer der Flammen wird. Er hustet noch einmal. Dann wird der Streifen wieder schmaler, bis der Rauch sich erneut wie ein dichter Teppich vor ihn schiebt. Es ist glühend heiß. Um ihn herum ist alles schwarz. Dann hört er ihn. Wieder. Jonas’ Schrei.
    Ein rotes Blinken lässt Henning ausatmen. Seine Augen gleiten zu dem anderen Rauchmelder unter der Decke. Er wartet darauf, dass auch dieser sein zyklisches Blinken von sich gibt. Aber es vergeht Zeit, Sekunden, eine, zwei, mehrere, der Klumpen in seiner Brust schwillt wieder an, und seine Schultern und sein Nacken verkrampfen sich, bis es plötzlich da ist, das schnelle rote Blinken.
    Er lässt sich in das Kissen sinken und atmet tief durch. Bleibt liegen und wartet darauf, dass sich das Untier in seiner Brust beruhigt. Bald bewegt es sich wieder ganz regelmäßig, und er betastet noch einmal die Narben an Hals und Gesicht. Sie brennen noch immer. Innen wie außen. Und sie werden nicht aufhören zu brennen, solange er nicht herausgefunden hat, wer bei ihm das Feuer gelegt hat. Wer hat dafür gesorgt, dass der tollste Junge der Welt nicht mehr lebt?
    Henning dreht sich zum Nachtschränkchen. Es ist noch nicht einmal halb elf. Die Kopfschmerzen, mit denen er vor anderthalb Stunden ins Bett gegangen ist, pulsieren noch immer. Er massiert sich die Schläfen, während er in die Küche schlurft und die letzte Dose Cola aus dem Kühlschrank nimmt. Er räumt die Kleider und Zeitungen vom Sofa im Wohnzimmer, ehe er Platz nimmt und die Dose öffnet. Das Geräusch der Blasen, die an die Oberfläche steigen, lässt ihn schläfrig werden. Dann schließt er die Augen und wünscht sich einen Traum ohne Schneeflocken.
    2
    »Seid ihr bald fertig? Ich will nach Hause.«
    Gunhild Dokken beugt sich über den Tresen und blickt in den Raum. Ein Song von Jokke & Valentinerne strömt aus den Lautsprechern. Auf einer Bank etwas weiter hinten liegt Geir Grønningen
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