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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Val McDermid
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normalerweise aufspringen und nachsehen. Offenbar war Vanessa Hill entweder schwerhörig oder so gefesselt von dem Schrott, den sie da im Fernsehen glotzte, dass sie seinen Einbruch nicht bemerkt hatte. Gut, die Tür zum Hausflur war geschlossen; vielleicht hatte sie es deshalb überhört.
    Vance bewegte sich so leise wie möglich durch die Küche, vorsichtig die Füße hebend, um ein Schlurfen seiner Plastiküberschuhe auf dem gefliesten Boden zu vermeiden. Behutsam öffnete er die Tür und war nicht überrascht, einen amerikanischen Dialog und Lachen zu hören. Jetzt, da er so kurz vor der Erfüllung seiner Aufgabe war, ging er mit lockeren, entspannten Bewegungen den Hausflur entlang. Zuerst hatte er Tony Hill das Heim genommen, und jetzt würde er ihm die einzige Blutsverwandte entreißen, seine geliebte Mutter. Er bedauerte nur, dass er nicht hierbleiben konnte, um Tonys Leid mit eigenen Augen auszukosten.
    Zwei Schritte vor der Wohnzimmertür hielt er kurz inne, richtete sich auf und straffte die Schultern. Das flimmernde Fernsehbild spiegelte sich auf der Klinge seines Messers.
    Schon war Vance durch die Tür geschlüpft, umrundete das Sofa und schwang seine Waffen in Richtung der Frau, die aufrecht zwischen den Kissen saß. Eine solche Reaktion hatte er jedoch nicht erwartet. Statt panisch zu schreien, musterte Vanessa Hill ihn lediglich mit milder Neugierde.
    »Hallo, Jacko«, begrüßte sie ihn. »Wieso kommen Sie jetzt erst?«

55
    T ony vermutete, dass das Blaulicht hinter ihm, das auf der Hauptstraße stetig näher kam, zu Ambrose gehörte. Mit einem winzigen Vorsprung bog er in die Seitenstraße ein und schaffte es, links in die Straße seiner Mutter einzuschwenken, bevor sie ihn überholen konnten.
    Tony ließ den Wagen einfach auf der Straße stehen und versuchte gar nicht erst einzuparken. Er rannte zur Haustür, wurde jedoch kurz davor von einem jungen Asiaten gestoppt und an die Hauswand gedrückt. »Nein, das lassen Sie«, zischte er. Dann stand Ambrose neben ihm und kämpfte sich in eine schusssichere Weste vom Format einer Autotür hinein.
    »Machen Sie langsam, Tony«, sagte er sanft. »Sie gehen nicht als Erster rein. Haben Sie einen Schlüssel?«
    Tony schnaubte. »Nein. Und ich weiß auch nicht, ob einer der Nachbarn einen hat. Ich bezweifle es allerdings. Meine Mutter lebt sehr zurückgezogen.«
    Weitere Beamte standen in der Nähe der Einfahrt. »Wir könnten einfach klingeln«, sagte einer von ihnen.
    »Wir wollen keine Geiselnahme«, protestierte Ambrose.
    »Die werden wir auch nicht bekommen«, sagte Tony. »Er ist nur aus einem Grund hier. Er tötet, und dann geht er wieder. Wenn er noch da drin ist, dann nur weil er gerade im Aufbruch ist.« Er wies mit dem Kopf auf die schmale Passage zwischen Garage und Haus. »Sie sollten einen Ihrer Jungs nach hinten schicken, falls er durch die Hintertür abhauen will.«
    Ambrose zeigte auf einen der Polizisten und dann auf den Durchgang. »Schau mal nach.« Dann warf er Tony einen verwirrten Blick zu. »Klingeln wir also.« Er wies auf Tony. »Aber Sie bleiben hinter uns. Was auch immer passiert, Sie bleiben hinten.«
    Überraschend leise näherten sich die kräftigen Männer der Tür. Die Lücke zwischen Singh und Ambrose war gerade groß genug, dass Tony sehen konnte, was vor sich ging. Ambrose betätigte die Türglocke und trat zurück, damit er außer Reichweite war, falls ihm jemand von der Tür aus einen Schlag versetzen wollte.
    Tony spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er war überzeugt, dass er jetzt näher an Vance dran war als jemals in den vergangenen zwölf Jahren. Ob der Killer bereits im Haus oder erst noch auf dem Weg hierher war, sie würden ihn jedenfalls hier finden. Tony mochte im Moment lieber nicht darüber nachdenken, was der Preis für diese Konfrontation sein könnte. Er wollte, dass Vance wieder eingesperrt wurde, und das endgültig. Es konnte nicht den geringsten Zweifel geben, dass Vance einer von denen war, denen man niemals irgendwelche Freiheiten zugestehen sollte. Das lief Tonys tiefster Überzeugung zuwider, dass Wiedereingliederung immer das Ziel der Rechtsprechung sein sollte; ab und an, musste er zugeben, gab es jedoch Menschen, denen man nicht helfen konnte. Sie waren nicht resozialisierbar. Vance war dafür das Paradebeispiel, und seine bloße Existenz kam Tony wie ein Vorwurf vor. Er und seinesgleichen erinnerten Tony immer wieder daran, dass das Rechtssystem leider häufiger versagte, als dass es
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