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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch
Autoren: Christine Lehmann
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erschlagen haben. Gabi sagt, der Junge habe sie mit einem Messer angegriffen. Aber die Polizei hat wohl kein Messer gefunden. Gabi hat sich selbst gestellt. Soll ich dranbleiben?«
    Marie nickte. Sie schien mit ihren Gedanken woanders. »Wir reden morgen drüber, wenn Louise da ist, ja?«
    Martha putzte den Kühlschrank in der Küche, die wir im ehemaligen Badezimmer der zum Büro umorganisierten Fünfzimmerwohnung untergebracht hatten. Mit resolutem Blick sackte sie Joghurtbecher jenseits des Verfallsdatums, verschimmelte Käseecken und Reste eines Büfetts in eine Tüte.
    »Das mit Gabi tut mir leid«, sagte ich.
    »Was ist denn mit ihr?«
    »Ach, dann wissen Sie es noch gar nicht. Gabi ist zur Polizei gegangen und hat erklärt, sie habe diesen Jungen umgebracht, der am Feuersee gefunden wurde.«
    Martha ließ den Putzlappen ins Spülwasser sinken. »Mein Gott, warum denn?«
    »Ich denke, es war Notwehr.«
    Martha sprach nie viel. Ihre Domäne war die stille liebevolle Dienstbarkeit. Sie hatte sämtliche Termine Louises im Kopf, alle wichtigen Telefonnummern, die kulinarischen Vorlieben und Abneigungen aller Menschen, mit denen sie zu tun hatte, und organisierte unauffällig und effizient das soziale Leben der Redaktion. Immer war Kaffeesahne da, stets Kaffee, Süßstoff und Zucker. Hitzige Konferenzen kühlte sie mit Plätzchen und Säften ab. Und wenn Louise in Lobeshymnen ausbrach, lächelte sie nur und wallte stumm von dannen. Nach einigen Monaten hatte auch ich meine Bedenken gekillt, dass wir Amazonen uns eine Redaktionsmutti hielten. Es war einfach zu schön, wenn sich jemand um die alltäglichen Kleinigkeiten kümmerte.
    »Das hat wohl so kommen müssen«, seufzte sie und zog den triefenden Lappen wieder aus dem Wassereimer. »Was treibt sie sich auch immer dort herum!«
    Wahrscheinlich war es gut, dass die Sekretärin so selten mitredete. Ihre geistige Welt entsprach nicht dem aufgeklärten Standard, den wir pflegten.
    »Auch Frauen haben das Recht, jeden Ort in der Stadt zu jeder Zeit ohne Gefahr für Leib und Leben aufzusuchen«, sagte ich.
    Martha widersprach nicht. Sie widersprach selten. Sie dachte sich ihren Teil und wischte den Kühlschrank aus.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir holen Ihre Tochter da wieder raus«, sagte ich. Wieso hatte ich nur den Eindruck, als wäre Martha das nicht recht?
    Den Nachmittag über bewegte ich in meinem Hirn das Konzept einer Polemik gegen öde Unterführungen, einsame Grünanlagen und die zynische Empfehlung der Polizei an Frauen, stets wachsam zu sein. Dann meldete ich mich zur Recherche ab.
    Es war feuchtkalt draußen. Den Menschenmassen nach zu schließen, die mit bösen Mienen und dicken Tüten herumschusselten, war Weihnachten ziemlich nahe. Vom Markt wehten Brandmandeldüfte herüber. Beim Kaufhaus Breuninger verteilte ein Weihnachtsmann Parfümproben, aber nicht an mich. Ein Mann in Lederjacke prallte gegen mich. Ich hatte ihn kommen sehen und den Ellbogen ausgefahren. Es riss ihn um seine eigene Achse. Ein Sekundenbruchteil flight or fight , dann entschuldigte er sich erschrocken. Seit ich aufgehört hatte, auf der Straße entgegenkommenden Männern auszuweichen, kam es immer wieder zu Zusammenstößen. Die meisten Männer waren unfähig, einen Zusammenprall vorherzusehen.
    Ein System von Ladenpassagen, Treppen, Rolltreppen und kleinen Plätzchen leitete mich unter das Schwabenzentrum. Hier vereinigten sich die Einkaufsströme aus den großen Kaufhäusern mit Obst- und Blumenverkäufern, Zeitschriftenhändlern und um Pfennige singenden Bettlern mit struppigen Hunden. Ein Teil zweigte an den Kassenautomaten ins Breuningerparkhaus ab. Der schäbigere Rest fand sich in dämpfigen U-Bahnen ein, die sich unter der Innenstadt hindurchtunnelten. Charlottenplatz, Staatsgalerie, Neckartor. Dort zuckelte die Bahn in den Winterabend hoch zum Stöckach in der Neckarstraße. Im Vorteil-Discount volle Einkaufswagen mit Großpackungen von Taschentüchern, Klopapier und Dosentomaten. Ich beschränkte mich auf ein Netz Orangen. Seitdem ich im dritten Stock wohnte, hatte ich mir Großeinkäufe abgewöhnt.
    Meine Holzdielenwohnung mit ihren zugigen Fenstern und einem staubigen Gasofen im Zentrum teilte ich mir mit einer Kaffeemaschine, einem Kühlschrank, einem Kleiderschrank, einem Bett, einem Fernseher, einigen Kisten Büchern und diversen Kosmetikartikeln. Ich schwang die Orangen auf die Spüle, die ich beim Einzug vor einem Jahr zusammen mit dem Küchenmobiliar und
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