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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch
Autoren: Christine Lehmann
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aber sie sah nicht im Mindesten nach dem Burschen aus, der mir am Sonntagabend auf den Leib gerückt war. Ihre Hände zitterten. Ein schlechtes Zeichen. Auch unter Frauen kosteten Liebeserklärungen anscheinend Überwindung. Und offenbar ging es um existenzielle Fragen, denn Gabis schwarze Augen nahmen das beeindruckende Chaos und den Dreck um mich herum nicht wahr. Ich legte Wert auf Kaffeebecherränder auf Schreibtischholz, überquellende Aschenbecher mit Höfen von Asche, Papier mit Kekskrümeln und Staubflocken in der Schreibmaschine. Schmuddelig war ich mir selbst am nächsten.
    »Zur Sache, Schätzchen«, sagte ich.
    Gabi brach ohne Umschweife in Tränen aus. Auf ihren kindlichen Backen entstanden rote Punkte. Der Riechkolben schwoll zu einer Tomate an.
    Ich nahm erst mal die Füße vom Tisch. Gabi konnte schließlich nichts dafür, dass ihre Sehnsüchte sich nicht mit den realistischen Möglichkeiten deckten. Auch ich hatte mei ne Jugend in einem Quallenzustand von Wollen und Nichtkönnen verbracht, beschränkt auf Onaniephantasien und einen unbeschälten Welpenkörper.
    »Was ist denn los?«, fragte ich sanft.
    Gabi wischte sich die Augen aus und zog den Rotz hoch.
    »Nun red schon, Mädel.«
    »Ich …«, schluchzte sie, »ich hab ihn erschlagen.«
    »Wen?«
    »Er hatte ein Messer.«
    Ich überlegte. »Du redest doch nicht von dem Toten an der Johanneskirche, oder? Von einem Messer stand nichts in der Zeitung.«
    Gabi wischte sich die Augen. »Aber er hatte ein Messer. Ich wollte ihn nicht totmachen. Aber plötzlich lag er da. Was soll ich denn jetzt tun? Die Polizei war schon bei Zilla.«
    »Quatsch«, sagte ich. »Die Polizei ermittelt in Dealerkreisen. Die müssen Drogen bei dem Jungen gefunden haben.« Ich griff dennoch zum Telefon. Zilla war nicht in ihrer Wohnung, dafür aber unten im Café.
    »Sag mal«, sagte ich, »meine Zuträger flüstern mir, dass die Polizei bei dir war.«
    Zilla lachte heiter und schön. »Ach das! Wer hat dir das erzählt? Das war nur das Übliche. Irgendwelche Nachbarn haben sich wieder mal beschwert, weil eine der Frauen mit ihrem Motorrad durch die Straße geheizt ist.«
    »Also kein Grund, zu einem längeren Artikel über Diskriminierung auszuholen.«
    »Das kommt alle paar Monate vor. Aber wenn du noch ei ne Geschichte für die Amazone brauchst …«
    »Danke. Wir sind im Prinzip voll.«
    Zilla schluckte. Ich legte auf.
    Gabi hing mit roten Hundeaugen an mir. »Ich habe ihn ermordet.«
    »Mord heißt Niedertracht und Berechnung.«
    »Jetzt muss ich ins Gefängnis. Das halte ich nicht aus!«
    »Unsinn! Oder kanntest du den Jungen?«
    Gabi schüttelte heftig den Kopf.
    »Dann kommt die Polizei auch nicht auf dich.«
    »Aber ich habe meine Brille verloren.«
    Ich bezweifelte, dass die Polizei Gabi aufgrund eines Kassengestells identifizieren konnte. Andererseits hatten die Optiker der Stadt natürlich Karteikarten.
    »Was ist denn wirklich passiert?«
    Gabi schluchzte auf. »Ich wollte zur U-Bahn. Plötzlich steht er vor mir. Ich war wie gelähmt. Ich dachte nur: Jetzt bist du dran. Jetzt ist es so weit. Jetzt geht es dir wie all den anderen Frauen. Du bist fällig. Ich glaube, ich habe ihm einen Stein über den Schädel gehauen.«
    »Woher hattest du den Stein?«
    »Die bauen da irgendwas. Ich war wie in Trance. Ich habe überhaupt nichts mehr mitgekriegt. Ich bin heim und gleich ins Bett und habe gar nicht darüber nachgedacht. Es war alles wie weggeblasen. Erst als ich das heute früh in der Zeitung las, da ist es mir wieder eingefallen. Ich dachte doch nicht, dass er tot ist!«
    »Und wie war das mit dem Messer?«
    Gabi angelte eine feuchte Strähne aus dem Gesicht – selbst ihre Haare wirkten heute länger – und stierte auf meine Füße. »Er muss doch ein Messer gehabt haben, sonst hätte ich doch niemals … Ich meine, ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass er mir was tun will.«
    »Und warum kommst du zu mir?«
    Vor mir hockte das Unglück in Gestalt einer von Angst und Verwirrung überforderten Studentin, deren verheulter Blick an meine nicht vorhandene Mütterlichkeit appellierte. Wenn man es genau betrachtet, verfügte ich damals eigentlich über keinerlei soziale Fähigkeiten. Das Unglück einer missglückten Ehe hatte mich gerade eben aus einem Dorf am Albtrauf in die Stadt katapultiert, die nicht mehr von mir verlangte, als dass ich in der Straßenbahn schwieg und an der Kasse eines Supermarkts bezahlte. Ich hielt es für nicht ganz ausgeschlossen,
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