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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Julie Hastrup
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schwach.
Niemand antwortete. »Kenneth«, versuchte sie es, doch auch jetzt kam keine
Reaktion.
    Sie blieb einige Minuten ruhig
liegen, sammelte Kräfte, um sich aufzusetzen. Mit einer letzten Kraftanstrengung
gelang es ihr, und ihre Hände tasteten im Dunkeln suchend zwischen
Mauerbrocken, Eisenstangen und Aluminiumplatten von dem umgestürzten Gerüst herum.
Plötzlich bekam sie einen kräftigen Unterschenkel zu fassen, einen
Unterschenkel in Nylonstrümpfen. Jane, dachte sie und zog erschrocken die Hand
zurück. Stöhnend hievte sie sich auf alle viere, um besser sehen zu können.
Jane Mathiesens Körper war zum Teil von einem schweren Brett verdeckt. Der Kopf
lag in einem unnatürlichen schrägen Winkel, und Rebekka nahm an, dass sie sich
bei dem Sturz das Genick gebrochen hatte. Einen kurzen Moment ärgerte es sie
gewaltig, dass die Pfarrersfrau nie zur Rechenschaft gezogen werden würde, doch
dann sah sie ein, dass das wohl die schonendste Lösung für die Hinterbliebenen
war. Sie krabbelte weiter über den unebenen Boden, bis sie im Dunkeln einen
leuchtenden weißen Turnschuh sah. Mit Kräften, von denen sie nicht gewusst
hatte, dass sie sie besaß, zerrte sie mehrere Aluminiumplatten zur Seite, und
kurz darauf hatte sie Kenneths Körper freigelegt. Er lag regungslos vor ihr,
bedeckt von einer dicken Staubschicht. Er sah friedlich aus, als würde er schlafen,
und sie tastete nach seinem Puls, fand ihn jedoch nicht. Sie nahm Kenneths
mollige Hand in ihre, sie war noch warm. Sie drückte sie leicht, während ihr
die Tränen die Wangen hinunterliefen. Dann hörte sie, wie sich Sirenen im
Dunkeln näherten. Endlich.

MONTAG, 3. SEPTEMBER
    Als Rebekka erwachte, war
es hell geworden. Sie sah sich um, sie lag im Krankenhaus, allein in einem Zimmer.
Das Bett stand nahe am Fenster, die Gardinen waren aufgezogen und gaben den
Blick auf die Stadt frei, die roten Ziegeldächer, die Kirche, das Gemeindehaus,
das Polizeipräsidium und einen breiten Streifen blauen Fjord. Einen Augenblick
lang genoss sie die Aussicht, während die Begebenheiten der Nacht langsam in
ihr Bewusstsein drangen. Es war seit Robins Tod das erste Mal, dass sie selbst
beinahe umgekommen wäre. Sie bewegte sich vorsichtig und merkte, dass ihr
Körper noch überall ziemlich wehtat. Ängstlich griff sie sich an die Nase, die
stark geschwollen war. Sie versuchte, durch die Nasenlöcher zu atmen; das eine
Nasenloch war zu, und sie hoffte, dass die Nase nicht gebrochen war. Als sie
ihre Hand zum Kopf wandern ließ, spürte sie, wie der gewaltige Verband auf der
Haut kratzte, und strich sich mit den Fingern über die Stirn. Sie war mit
vielen kleinen Stichen genäht worden. Sie fuhr sich mit der Zunge über die
Zähne, ein Schneidezahn schien zu wackeln. Der Drang, in den Spiegel zu sehen,
mit eigenen Augen zu sehen, dass sie noch lebte, überwältigte sie. Sie
versuchte sich aufzusetzen, musste ihr Vorhaben jedoch schnell aufgeben, da
sich bei der Bewegung das Zimmer vor ihren Augen drehte. Sie sank zurück ins
Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
    Wenig später erwachte sie davon,
dass jemand sie ansah. Michael. Er saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett.
    »Hallo«, flüsterte sie heiser und wunderte sich, dass ihre Stimme
noch nicht wieder ganz zurückgekehrt war.
    »Hallo.« Er blinzelte ihr zu und drückte liebevoll ihre Hand.
    »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, fuhr er fort und drückte die
Hand fester, »dir darf doch nichts passieren.«
    »Wo warst du?«, flüsterte sie. »Ich habe so oft versucht, dich zu
erreichen.«
    Michael erzählte kurz von Amalie und ihrer Blinddarmentzündung, und
Rebekka schämte sich, dass sie so sauer auf ihn gewesen war, weil er nicht
zurückgerufen hatte.
    »Es war Jane Mathiesen. Jane Mathiesen steckte dahinter«, sagte sie
und wunderte sich, dass sie die Pfarrersfrau nicht einen Moment lang
verdächtigt hatte.
    Er nickte langsam.
    »Das haben wir uns ausgerechnet, als wir euch gefunden haben. Wir
haben nämlich auch die Mordwaffen gefunden, die beiden Messer, Annas Tagebuch
und Katjas Handy. Alles war oben auf dem Dachboden versteckt. Außerdem ein Foto
von Anna, Kristian und Erik, das zusammengeknüllt zwischen Staub und Mauerbrocken
lag.«
    »Das Foto hat mich auf die Spur gebracht.«
    »Wie?«, fragte er und sah sie voller Bewunderung an.
    »Das Foto von Anna, Kristian und Erik lag zusammengeknüllt auf dem
Boden in John Mathiesens Büro, und als ich es mir genauer angesehen habe, wurde
mir klar,
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