Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Julie Hastrup
Vom Netzwerk:
Seine Muskeln
zitterten, und er putzte sich die Zähne mit einer solchen Heftigkeit, dass sein
Gaumen zu bluten begann. Er betrachtete sich im Spiegel, während der
Zahnpastaschaum im Waschbecken verschwand und eine schwache hellrote Spur hinterließ.
Dann ging er ins Schlafzimmer und warf einen Blick auf den Radiowecker auf dem
Nachttisch. Er hatte nur noch zwei Stunden, bis er Rebekka bei ihren Eltern im
Ringevej abholen sollte. Er holte seine besten Calvin-Klein-Boxershorts heraus,
eine Diesel-Jeans und ein einfarbiges blaues Hemd, von dem Bettina einmal gesagt
hatte, dass es perfekt zu seiner Augenfarbe passe. Er warf das Hemd abrupt zur
Seite, stand einen Augenblick zweifelnd da, um es schließlich wieder aufzuheben.
Er freute sich darauf, Rebekka nach Kopenhagen zu fahren. Sie hatten
vereinbart, dass er bei ihr übernachten und ihr beim Einkaufen und Auspacken
helfen sollte, und er spürte eine Zärtlichkeit für sie, wie sie da so klein und
angeschlagen in dem Bett gelegen hatte. Nur mit knapper Not war sie mit Jane
Mathiesen fertiggeworden, und der Gedanke, was hätte passieren können, wenn das
Gerüst nicht eingestürzt wäre, traf ihn im Magen wie ein Faustschlag.
    —
    Erik bohrte das Gesicht
ins Bettzeug und atmete den Geruch seines Bruders ein. Nach Schweißfüßen, Pfefferminzpastillen
und feuchter Erde. Er schloss die Augen, noch immer unfähig, all die Gefühle zu
fassen, die in ihm wüteten. Unten war die Polizei mit einem Psychologen für
Krisenintervention, dem Vater, der merkwürdig zusammengesunken dasaß, und
Kristian, der leicht manisch immer wieder aufsprang, um Kaffee zu machen,
Brotkrumen aufzuwischen und sich die Nase zu putzen. Erik hätte am liebsten
geschrien, aus voller Kraft gebrüllt, hatte sich jedoch wie üblich für den
Rückzug entschieden. Er kroch unter Kenneths Decke, betrachtete die verblassten
Brauntöne des gemusterten Bettzeugs. Draußen vor dem Fenster sang laut eine Amsel,
und er sah, wie sich die großen Bäume im Garten sanft im Wind wiegten.
    Er wusste nicht, wie lange er so
dagelegen hatte, als die Tür aufging. Sein Vater kam herein, trat zum Bett und
setzte sich vorsichtig ans Kopfende. Sie schwiegen eine Zeit lang, dann legte
er Erik die Hand auf den Kopf.
    »Wir kommen zurecht, Erik. Du, ich und Kristian. Wir kommen zurecht.
Die Leute werden uns helfen. Gott wird uns helfen. Wir sind von Liebe umgeben.
Das verspreche ich dir.«
    Die Stimme seines Vaters war voller Trauer, doch da war auch ein
Funke Hoffnung. Die Hoffnung auf eine irgendwie geartete Zukunft. Die Wärme von
der Hand seines Vaters strömte durch ihn hindurch, und er gab dem Weinen nach,
das vom Bauch aufstieg wie der Schrei eines Tiers. Der Vater nahm ihn in den
Arm, half ihm, sich aufzurichten, und hielt ihn fest. Wiegte ihn langsam hin
und her. Nie hatten sie so gesessen, so eng, und Eriks unmittelbarer Impuls
war, sich aus der Umarmung zu befreien. Doch dann gab er den Widerstand auf und
ließ sich in einen tiefen, traumlosen Schlaf wiegen.
    —
    Die Spätsommersonne
liebkoste die Nordsee und verlieh der Wasseroberfläche einen goldenen Schein.
Die Brandung war normalerweise heftig an dieser Stelle, doch an diesem
Nachmittag war das Meer ruhig, und Rebekka und ihre Mutter standen in dem
lauwarmen Sand und starrten auf den Horizont. Sie waren zurückgekehrt.
    Sie hatten im Wohnzimmer der Eltern
gesessen und Tee getrunken, und Rebekka hatte von dem Kampf mit Jane Mathiesen
auf dem wackligen Gerüst erzählt. Die Eltern waren erschüttert, der Vater
keuchte immer heftiger, während die Mutter erschrocken die Hand vor den Mund
schlug.
    »Du hättest tot sein können, Rebekka. Tot. Sie hätte mir mein einziges Kind nehmen können.« Die Mutter sprach die Worte
an den Vater gewandt, der stumm nickte. Dann füllten sich ihre Augen mit
Tränen.
    »Mama, sollen wir nicht nach Søndervig fahren und uns von Robin
verabschieden?«, rutschte es Rebekka heraus, und die Mutter erstarrte kurz und
zog sich in ihre alte Schale zurück, bevor sie plötzlich Rebekka entschlossen
zunickte, aufstand und in die Diele ging, um Mantel und Tasche zu holen.
    »Papa, willst du mit?«, fragte Rebekka und legte dem Vater
vorsichtig die Hand auf den sehnigen Arm. Er schüttelte freundlich den Kopf und
sah sie mit glänzenden, dankbaren Augen an.
    »Das ist etwas zwischen dir und Mama, Bekka. Ich habe Kaffee und ein
paar Brote fertig, wenn ihr zurückkommt.«
    Anfangs war die Stimmung zwischen ihnen angespannt. Stumm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher