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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski
Autoren: Atiq Rahimi
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Knöchel zu kümmern. Den hat er bereits vergessen. Erst am Ufer des Kabul bleibt er stehen. Der Schlickgeruch, der üble Gestank, der in diesem Spätsommer aus dem Flussbett aufsteigt, bringt ihn etwas zu sich. Mit der Reglosigkeit erwacht auch wieder der Schmerz und hindert ihn, seinen Irrweg fortzusetzen. Er hält sich am Geländer fest und massiert den Knöchel.
    Die Luft wird immer unerträglicher. Rassul hustet. Ein kratzender, tonloser Husten.
    Die Kehle ist taub.
    Die Zunge aus Staub.
    Kein Tröpfchen Hoffnung, nicht in seinem Mund, nicht im Fluss und nicht am Himmel.
    Die alte Sonne, schwächlich hinter ihrem Schleier aus Staub und Rauch, geht traurig hinter den Bergen unter … Die Sonne, untergehen? Was für ein blöder Ausdruck! Die Sonne geht nicht unter, sie geht auf die andere Seite der Erde. Sie hat es eilig, auf erfreulichere Gegenden hinabzuscheinen. Nimm mich mit!, hört sich Rassul innerlich schreien. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er in die Sonne, geht ein paar Schritte, dann bleibt er stehen. Er beschattet seine Augen mit der Hand und schaut sich flüchtig um, als wollte er sich diskret versichern, dass niemand seine stillen Delirien mitbekommen hat. Aber nein, Rassulchen, die Welt hat andere Sorgen, als einen armen Irren zu beobachten!
    Geh nach Hause. Und schlaf!
    Schlafen? Ist das denn möglich?
    Aber sicher ist das möglich. Du machst es wie Raskolnikow, der nach seinem Mord an der Pfandleiherin heimgeht und sich fiebernd auf seinen Diwan sinken lässt. Gut, du hast keinen Diwan, aber du hast eine Matratze, eine schmierige Matratze direkt auf dem Boden, die dich voller Mitleid erwartet.
    Und dann?
    Dann nichts. Du schläfst.
    Nein, ich falle in Ohnmacht.
    Na, dann fall in Ohnmacht, wenn du willst, auch gut, und bleib so bis zum nächsten Morgen. Am Morgen, wenn du aufwachst, wirst du merken, dass alles nichts als ein Alptraum gewesen ist.
    Aber nein, ich kann das nicht so einfach vergessen.
    Natürlich kannst du das. Schau doch, du hast nichts bei dir, was dich an den Mord erinnert. Kein Geld, keinen Schmuck, kein Beil, kein …
    Blut!
    Er bleibt abrupt stehen! Panisch überprüft er seine Hände, nichts; die Ärmel, nichts; seine Jacke, nichts; aber unten auf dem Hemd ist ein großer Fleck! Warum dort? Nein, das ist nicht das Blut der nana Alia. Es stammt von dem Mädchen, das du gerettet hast.
    Dieses Durcheinander irritiert ihn. Er untersucht sich noch einmal. Kein weiteres Blut. Keine Spur von einem Mord. Wie ist das möglich?
    Wahrscheinlich hast du ihn gar nicht begangen. Er hat nur in deiner armseligen Phantasie stattgefunden. In deiner naiven Identifizierung mit einer Romanfigur. Hat alles nichts zu bedeuten! Jetzt kannst du seelenruhig nach Hause gehen. Du kannst sogar vergessen, dass du gestern deiner Verlobten Suphia versprochen hast, diese Nacht bei ihr zu verbringen. In deinem Zustand läufst du besser niemandem über den Weg.
    Nein, ich gehe nicht zu ihr. Aber ich habe Hunger.
    Jetzt, wo du fünfzig Afghani hast, kannst du dir etwas Brot und Obst kaufen. Du hast schon mehrere Tage nichts mehr gegessen.
    Sein leerer Bauch führt ihn zum Joyshir-Platz. Die Bäckerei ist geschlossen. Am anderen Ende des Platzes räumt ein alter Händler seinen Stand auf. Nach einem Moment der Unschlüssigkeit geht Rassul langsam auf den Laden zu. Er hat noch keine drei Schritte getan, als ihn ein Schrei abrupt innehalten lässt. »Nein! Nein, nehmt nichts davon!« Eine verschleierte Frau kommt schreiend wie eine Irre aus einer der Gassen gerannt. »… Das ist das Fleisch … das Fleisch von …« Mitten auf dem Platz bleibt sie stehen, überrascht, dass der Ort so leer und still ist. Wimmernd lässt sie sich zu Boden sinken: »Das Fleisch von jungen Mädchen … Vorgestern haben sie welches vor dem Mausoleum verteilt …« Sie findet nur Rassul, um ihre Tränen loszuwerden. »Ich schwör’s dir, Bruder, ich lüge nicht. Ich habe es genau gesehen …«, sie reckt sich in seine Richtung, »das Opferfleisch, das sie mir gegeben haben«, senkt die Stimme, »das war die Brust eines Mädchens!«, streckt die Hand aus demTschaderi. »Ich schwör’s dir, Bruder … Dieselben Männer, die das Opfer verteilt haben, hier, eben … Das waren sie«, nimmt den Schleier vom Gesicht, »dieselben … neulich … vor dem Mausoleum …«, und verstummt endlich. Und während sie sich mit einem Zipfel ihres Tschaderi die Augen trocknet, fragt sie mit schwacher Stimme: »Bruder, hast du Geld? Ich
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