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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski
Autoren: Atiq Rahimi
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masturbiert. Sein Misstrauen rührt daher, dass er noch nicht weiß, welcher Art ihre Gefühle für ihn sind, Leidenschaft oder Mitleid. Wenn es Mitleid ist, wird er sie verachten. Und wenn es Leidenschaft ist, dann wird sich sein Verhältnis zu Yarmohamad noch weiter verschlechtern. Also besser keinen Gedanken daran verschwenden. Besser auf sein Zimmer gehen. Und sich ausruhen, um zu Atem zu kommen und seine Stimme wiederzufinden.

DAS KNARREN DER TÜR scheucht einen ganzen Schwarm Fliegen auf, die in der Hoffnung, etwas zum Schlecken zu finden, ins Zimmer eingedrungen sind. Hier gibt es nichts. Nichts als herumliegende Bücher, eine schmierige Matratze, ein paar ausgebeulte Kleidungsstücke, die an der Wand hängen, in einer Ecke des Raums ein Tonkrug. Und das war’s schon.
    Rassul bahnt sich einen Weg, indem er mit dem Fuß die Bücher neben der Matratze zur Seite schiebt. Ohne die Schuhe auszuziehen, lässt er sich aufs Bett fallen. Er braucht einen Moment Ruhe.
    Schließ die Augen. Atme ruhig, regelmäßig, langsam.
    Seine Zunge ist nur noch ein Stück dürres Holz.
    Er steht auf.
    Trinkt.
    Legt sich wieder hin.
    Seine Kehle ist immer noch trocken und leer, ohne jeden Ton.
    Er atmet tief ein, unruhig wieder aus.
    Wieder dasselbe, nichts vibriert.
    Von Angst gepackt, setzt er sich auf und klopft sich auf die Brust. Umsonst. Er klopft noch einmal, stärker.
    Immer mit der Ruhe! Es gibt keinen Grund zur Sorge. Es ist nichts, nur Heiserkeit, leichte Atembeschwerden. Das ist alles. Du musst schlafen. Wenn es morgen noch nicht weg ist, gehst du zum Arzt.
    Er legt sich hin, dreht sich zur Wand. Den Körper zusammengekrümmt, die Hände zwischen die Knie geklemmt, die Augen geschlossen, schläft er.
    Er schläft, bis der Ruf zum Nachtgebet ertönt und die Schüsse von der anderen Seite des Berges verstummen. Und dann Stille herrscht. Diese beängstigende Stille ist es, die ihn weckt.
    Fiebrig. Keine Kraft aufzustehen. Auch keine Lust. Ängstlich versucht er erneut, einen Laut zu erzwingen. Wieder ein kräftiger Atemstoß, aber kein einziges Wort. Verunsichert schließt er die Augen, doch das erstickte Jammern einer Frau schreckt ihn auf. Er erstarrt. Hält seinen stockenden Atem an und lauscht. Kein Schrei mehr, keine Stimme. Neugierig erhebt er sich von der Matratze, geht ans Fenster und wirft einen Blick zwischen den Fliegen hindurch, die in Trauben an der Scheibe kleben. In dem fahlen, kalten Mondlicht liegt der leere Hof traurig und benommen da.
    Nach einer Weile zündet er eine Kerze an. Er angelt nach einem kleinen Heft zwischen den Büchern, öffnet es und kritzelt hinein: »Heute habe ich nana Alia getötet«, dann wirft er es in die Ecke zu den Büchern zurück.
    Trinkt Wasser.
    Macht die Kerze aus.
    Kehrt ins Bett zurück.
    Der Mond wirft, dicht über seinem gebrochenen Körper, ein Kreuz an die Wand, den Schatten des Fensters.

»ES WAR EIN FRÜHLINGSTAG. Die Rote Armee hatte Afghanistan bereits verlassen, aber die Mudschaheddin hatten noch nicht die Macht ergriffen. Ich kam gerade aus Leningrad zurück. Warum ich dort war, ist eine andere Geschichte, die ich hier, in diesem Heft, nicht erzählen kann. Kehren wir zu dem Tag zurück, an dem ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Es ist schon fast eineinhalb Jahre her. Es war in der Bibliothek der Universität Kabul, wo ich arbeitete. Du hast nach einem Buch gefragt, aber hast mein Herz mitgenommen. Als ich dich sah, deinen ausweichenden, schamhaften Blick, blieb mir das Herz stehen, jeder Atemzug war erfüllt von deinem Namen: Suphia. Rings um mich kam alles zum Stillstand, die Zeit, die Welt … es gab nur noch dich, dich allein. Wortlos folgte ich dir bis zu deinem Unterrichtsraum; ich wartete sogar am Ende der Vorlesung auf dich. Aber auf dich zuzugehen, dich anzusprechen, war unmöglich. Danach war es immer dieselbe Geschichte. Ich tat alles, um dir zu begegnen, einen kurzen Blick auf dich zu werfen, dich anzulächeln, und weiter nichts. Warum schaffte ich es nicht, dir meine Liebe zu gestehen? Ich verstand es nicht. Fehlte es mir an Mut? Oder war es Stolz? Wie auch immer, unsere Geschichte beschränkte sich auf diesen flüchtigen Blick und dieses diskrete Lächeln, das du vielleicht nicht einmal bemerkt hast; und selbst wenn du es bemerkt haben solltest, wagtest du nicht, aus Schüchternheit oder Scham, es zu erwidern.
    Dieser Liebe wegen habe ich mich im Dehafghanan-Viertel niedergelassen, am Fuß des Berges Asmai, zwei Schritte von dir entfernt. Damals
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