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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski
Autoren: Atiq Rahimi
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über das Gedächtnis. Um das Schicksal zu ertragen, braucht man Haschisch, und zwar eine ziemliche Menge, um nichts mehr zu spüren. Aber wo soll man denn heutzutage das Geld hernehmen? Hätte ich welches, säße ich immer noch da unten, in der saqichana  …‹ Ich lud ihn ein. Er lehnte nicht ab. Wir standen auf, baten den Wirt, uns den Tee ins Rauchzimmer zu bringen. Gingen hinunter. Der verrauchte Raum wurde durch das gelbe Licht einer Öllampe an der Decke erleuchtet. Undeutlich zeichneten sich schweigende Männer ab, die mit verlorenem Blick im Kreis um ein großes Schillum herum saßen. Alle in Trance. Dein Vater fand eine freie Ecke für uns. Er rauchte, ich nicht. Nach und nach gingen die anderen, und als wir allein waren, sprach er weiter: ›Was hab ich dir erzählt?‹ Wieder half ich ihm. Er fuhr fort: ›Ja, dieser Hund von Direktor … Dieser Hund, dem das Schicksal Flügel verliehen hat, war einer dieser Neureichen, der vom Whisky hatte reden hören, selbst aber noch nie welchen getrunken hatte. Einmal bat er mich, ihm eine Flasche zu besorgen. Er sagte nicht Whisky, er sagte wetsakay !‹ Dein Vater lachte. ›Weißt du, was Whisky auf Paschtunisch heißt?‹ Wieder ließ er mir keine Zeit zum Antworten. ›Es heißt: Willst du trinken?‹ Eine Pause, dann wurde er ernst. ›Ich bin losgezogen und habe ihm einen heimischen Alkohol gekauft, den schlimmsten, den ich auftreiben konnte, habe ein bisschen Coca-Cola reingeschüttet, ein bisschen Tee! Sah aus wie Whisky. Dann habe ich eine hübsche Flasche damit gefüllt und sie gut verschlossen. Ganz professionell! Und sie ihm gebracht. Ich verlangte sechshundert Afghani dafür. Das war damals eine Menge Geld, weißt du! Danach hat er immer wieder wetsakay verlangt, und ich lieferte ihm dasselbe Zeug. Noch einige Monate, und dann ist seine Leber explodiert, verreckt, Schluss! KAPUTT 1 !‹ Stolz nahm er einen langen Zug aus der Wasserpfeife und spie den Rauch Richtung Lampe. ›Nun sag mir, junger Mann, war das etwa kein Dschihad? Ich kann auch in Anspruch nehmen, ein Mudschaheddin zu sein, ein bradar , ein Ghasi!‹ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich schaute ihn traurig an. ›Seit diesem Tag rufe ich Allah an und frage ihn, wie es mit meiner Gerechtigkeit steht, und mit seiner Gerechtigkeit! Hör zu, junger Mann, dieser Hund von Direktor war ein Verräter, er musste bestraft werden. Genau das hab ich getan. Ich konnte doch nicht warten, bis das Regime gewechselt hat und man ihm den Prozess macht!‹ Wieder ein Zug aus dem Schillum, Pause. ›Inzwischen hat das Regime gewechselt … Heute will jeder Dummkopf für Gerechtigkeit sorgen, ohne Ermittlung, ohne Prozess. Wie ich damals. Und nun! Das Ziel der Bestrafung ist es, den Verrat abzuschaffen und nicht die Verräter … Heute frage ich mich, ob diese Art Urteil und Strafe nicht selbst ein Verbrechen ist.‹ Bis dahin ganz in die Züge und die Stimme deines Vaters vertieft, schreckte ich plötzlich auf und fragte ihn, ob er Verbrechen und Strafe gelesen habe. Er schaute mich verständnislos an, dann lachte er auf. ›Nein, junger Mann, nein! Das Leben … Das LEBEN habe ich gelesen!‹ Und plötzlich verstummte er. Lange. Ich ebenfalls. Er rauchte. Ich dachte nach. Jeder in seiner Welt. Meine Welt war von dir bewohnt. Ich überlegte, wie ich deinen Vater dazu bringen könnte, von dir zu sprechen. Plötzlich fing er wieder an zu reden, aber immer noch von seiner eigenen Welt: ›Mit den Khalqi war Schluss, jetzt waren die Russen an der Reihe. Dann, das war kurz bevor sie gegangen sind … regnete es von überall Granaten. Und eines Tages hat eine ins Archiv eingeschlagen. Wir waren alle im Büro. Meine zwei Kollegen, die du gesehen hast, und ich rannten los, um die wichtigsten Dokumente aus den Flammen zu retten. Dann eine zweite Granate, und wir lagen alle drei im eigenen Blut.‹ Er schüttelte den Kopf, bereute ihren Mut. ›Jetzt sind wir Krüppel. Und wer gibt uns einen Orden dafür? Wer denkt an uns? Keiner!‹ Wieder Stille. Wieder die Erinnerungen, Vorwürfe, Gewissensbisse … ›Seither bleibe ich zu Hause, bei meiner Frau und meinen Kindern. Ich muss sie ernähren, die Miete bezahlen. Wer bezahlt das alles? Als ich nach Geld fragte, haben sie mich beschimpft. Weil ich unter dem kommunistischen Regime gearbeitet habe, hat man mich als Verräter bezichtigt. Ich hatte keine Wahl, ich habe all die kostbaren Dokumente, die ich aufbewahrt hatte, als Pfand bei meinem Vermieter
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