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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski
Autoren: Atiq Rahimi
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sich wieder zu Rassul: »Ich habe fünf Goldzähne hineinsetzen lassen. Fünf Stück!« Nach einem kurzen Blick in Richtung des Bärtigen fährt er mit wehleidiger Stimme fort: »Meine Frau drängt mich, sie zu verkaufen, für die Haushaltsausgaben. Ich hab mein Gebiss schon mehrmals ins Pfandleihhaus gebracht. Sobald mein Sohn ein bisschen Geld aus dem Ausland schickt, hol ich es mir zurück. Erst heute Morgen habe ich es ausgelöst. Was für ein verfluchter Tag!« Er steht auf und schlängelt sich durch die Menge, vielleicht auf der Suche nach dem Mann.
    Rassul hat die Ironie des Bärtigen gefallen, weniger aus Zynismus, sondern weil er goldene Zahnprothesen verabscheut, ein Sinnbild für Geiz in seiner ganzen Hässlichkeit. Nana Alia hatte auch zwei Goldzähne. Wenn er Zeit hätte, würde er sie ihr gerne ausreißen!
    Zeit hat er gehabt, aber er hat sich tölpelhaft angestellt; sonst läge er jetzt nicht so erbärmlich hier mit seinem Fünfzig-Afghani-Schein in der Faust.
    Er steht auf, inmitten der Leute, die sich wieder rühren, wild durcheinanderrennen und versuchen, einigermaßen zu sich zu kommen, während sie Mund und Nase bedecken, um nicht an dem Rauch und dem Staub zu ersticken. Die meisten laufen in Richtung des Feuers. Die Flammen und der Qualm steigen immer höher auf. Rassul nähert sich ebenfalls dem Feuer. Verkohlende Leichen lassen ihn zurückweichen, doch dann ruft ihn die Stimme eines Mannes durch den Rauch hindurch um Hilfe. Der Mann versucht, ein verletztes Mädchen auf dem Rücken zu tragen. »Ich bin ganz allein. Die Unglückliche lebt noch.« Rassul eilt herbei, nimmt das Mädchen auf den Arm und geht ein Stück, dann gibt er sie zurück. »Wir müssen fort von hier! Das Reservoir wird in die Luft fliegen!«, schreit der Mann und löst Panik aus unter denjenigen, die die Flammen zu löschen versuchen.
    Rassul setzt seinen Weg zum Berg Asmai fort. Sein müder Blick verliert sich in den engen, dunklen Gassen, die sich labyrinthisch den Hügel hinaufschlängeln, zwischen Tausenden Häusern hindurch, alle aus Lehm und ineinander verschachtelt, auf Stufen, die sich bis zum Gipfel dieses Berges erstrecken, der die Stadt Kabul, in ihren Träumen und Alpträumen, geographisch, politisch und moralisch in zwei Teile teilt. Wie ein Bauch, der kurz davor ist zu platzen.
    Von hier unten ist das Dach von nana Alias Haus zu sehen. Ein großes Haus mit grüner Fassade und weißen Fenstern.
    Jetzt, wo die Frau weg ist, könnte er eigentlich zurück, einfach nur, um einen kurzen Blick hineinzuwerfen.
    Mühsam steigt er die steile Straße wieder hoch bis zu einem Durchgang, als drei bewaffnete, wütende Männer um eine Ecke biegen. Rassul senkt den Kopf, um sein Gesicht zu verbergen, und hört nur ihr Gebrüll: »Diese Arschficker, jetzt jagen sie auch noch unsere Tankstelle in die Luft …«
    »Zwei Granaten! Wir werden ihnen acht rüberschicken, um ihre zu zerstören. Ihr Viertel wird in Schutt und Asche liegen, in Blut baden!«
    Sie verschwinden.
    Rassul geht weiter. Bevor er in der Straße seines Opfers angelangt ist, legt er eine Pause ein. Seine Beine zittern. Er atmet tief durch. Der Fäulnisgestank vermischt sich mit dem Geruch von Benzin und Pulver. Die Luft ist noch drückender geworden, zum Schneiden. Aber da ist noch ein anderer Geruch, der Geruch nach Fleisch, verbranntem Fleisch. Schauderhaft. Rassul hält sich die Nase zu. Er macht einen Schritt. Der zweite ist zögernd, wird gebremst vom Bild der Leiche nana Alias, das Rassuls abgespannten Geist heimsucht. Unmöglich, diesen mit seinen eigenen Händen, seinen zitternden, fahrigen, schwitzenden Händen getöteten Körper wiederzusehen. Er muss es aufgeben, alles.
    Er macht kehrt. Aber eine morbide, fast krankhafte Neugier stoppt ihn erneut. Bestimmt ist die Polizei da, ihre Angehörigen, Nachbarn, es gibt Tränen, Schreie …
    Überzeugt zu wissen, was ihn erwartet, geht er zurück. Nähert sich. Noch immer nichts. Geht durch die rauchige Stille der Straße vorsichtig bis zu dem Haus. Keine Menschenseele. Nur dieser faule Hund, der sich nicht einmal mehr aufzustehen bequemt, um zu bellen.
    Verdutzt steht Rassul vor der Haustür. Geschlossen. Er drückt dagegen. Sie geht nicht auf. Jemand muss sie von innen verschlossen haben. Aber warum dann diese Stille, diese Erstarrung?
    Das sieht gar nicht gut aus.
    Geh nach Hause!

ER GEHT NICHT NACH Hause. Er irrt durch die Stadt. Schon bald drei Stunden. Ohne jede Eile. Ohne sich um seinen verletzten
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