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Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Titel: Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Autoren: Michael Böckler
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würde. Dann nämlich traf sich halb Verona zum Bummel in dieser beliebten Einkaufsstraße. Ein kurzer Abstecher würde sie in die Via Capello führen, wo es im Hof der gotischen Casa di Giulietta den berühmten Balkon aus Shakespeares
Romeo und Julia
zu sehen gab.
    Die unversöhnliche Fehde zwischen den beiden Adelsfamilien Montague und Capulet hatte es Anfang des 14. Jahrhunderts wohl wirklich gegeben, auch wenn sie historisch nicht belegt ist. Shakespeare kannte die veronesische Legende dieses tragischen Liebespaars, war selbst aber nie an diesem Ort gewesen. Den Balkon, dem er in der Szene »In geheimer Nacht« zu Weltruhm verholfen hat, hätte er sich ohnehin nicht anschauen können. Er wurde nämlich erst 1935 angebaut, um den Erwartungen der Besucher aus aller Welt zu entsprechen. Aber diese desillusionierende Information wollte Laura ihrer Gruppe ersparen.
    Den Abschluss ihrer Tour bildete die Piazza delle Erbe. Dort würde sie erzählen, dass dieser malerische Platz der Kräuter der wichtigste Markt Veronas war. Dass die Römer hier einst ihr Forum hatten. Dass das Wahrzeichen der Stadt, die Madonna di Verona, eigentlich eine römische Figur sei, der erst im 14. Jahrhundert ihr heutiger Kopf aufgesetzt wurde. Sie würde auf die Fresken an den Case Mazzanti hinweisen und die Aufmerksamkeit auf den geflügelten Markuslöwen vor dem Palazzo Maffei lenken, der die jahrhundertelange Herrschaft Venedigs über Verona symbolisierte. Ja, und danach würde sie ihre erschöpfte Gruppe zum Bus bringen, der sie zum Mittagessen zurück ins Hotel fuhr. Laura blieben vier Stunden Pause. Um sechzehn Uhr begann die kurze Nachmittagsführung. Und um achtzehn Uhr war sie schließlich fertig. Sie freute sich auf die drei Tage, die sie im Haus am Gardasee verbringen würde, wo sie eine kleine Einliegerwohnung hatte. Abends würde sie mit Ottilia Balkow auf der Terrasse sitzen, Rotwein trinken und über Tizian, Palladio oder Tiepolo diskutieren. Die alte Dame kannte sich glänzend aus in der Kunst- und Kulturgeschichte des Veneto. Beide hatten sie Freude an diesen Gesprächen, zu denen im Hintergrund fast immer eine der alten Platten mit Musik von Verdi oder Vivaldi zu hören war.
    Laura konzentrierte sich wieder auf ihre Gruppe. »So, wenn Sie mir nun bitte folgen würden.« Sie hob eine kleine Fahne nach oben, die ihren amerikanischen Gästen als Orientierung diente, und ging nach links, an der Arena vorbei, zur Via Mazzini. Der Videofilmer, der mit seiner Kamera in den Arkaden immer noch nach den angesprochenen Nutten Ausschau hielt, verpasste fast den Anschluss.

4
    A lessandro lief der Schweiß über die Stirn, als er die schweren Gewichte erneut nach oben stemmte. Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig. Er machte eine kurze Pause. Hundert. Geschafft! Alessandro ließ die Gewichte in die Halterung krachen, atmete tief durch und stand auf. Das morgendliche Krafttraining war beendet. Der über zwei Meter große Hüne bewunderte sich im Spiegel, ließ noch einmal kurz den Bizeps anschwellen, grinste zufrieden, löste die zum Zopf gebundenen Haare und ging unter die Dusche. In einer Stunde hatte er sich bei seinem Chef zu melden, den alle nur Principale nannten. Alessandro war der Mann für besondere Aufgaben, worunter der Principale vor allem das Eintreiben von Schulden verstand. Schon allein mit seiner Körpersprache hatte Alessandro eine beachtliche Überzeugungskraft. Und bei extrem hartnäckigen Fällen verfügte er zudem über ein erprobtes Repertoire an wenig feinen Maßnahmen. Da spielte es keine Rolle, dass die geistigen Fähigkeiten nicht ganz mit seinem Muskelumfang Schritt halten konnten. Der Principale war auch so mit ihm hoch zufrieden.
    Pünktlich auf den Glockenschlag – der Principale war ein Mann von großer Gewissenhaftigkeit – betrat Alessandro das Kaminzimmer. Der dicke Perserteppich dämpfte seinen schweren Schritt. Der Principale, ein alter Herr mit weißem Haar und einer dunklen Sonnenbrille, saß in einem antiken Lehnstuhl und spielte mit dem Jeton einer Spielbank. Er gab Alessandro ein Zeichen, sich zu setzen. Behutsam nahm dieser in einem Sessel Platz.
    »Alessandro, ich bin unglücklich«, begann der Principale, »um ehrlich zu sein, sehr unglücklich.« Dabei legte er die Stirn in Sorgenfalten.
    Alessandro wusste nicht, wie er auf dieses Bekenntnis zu reagieren hatte, und nickte deshalb vorsichtshalber zustimmend.
    Der Principale ließ den Jeton durch die Handfläche gleiten,
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