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Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Titel: Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Autoren: Michael Böckler
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perdono per il destino della Signora. Tuttavia, buon divertimento!

PROLOGO
     
     
     
    D ie alte Dame setzte den Tonarm auf die Schallplatte. In Erwartung der Streicher, die gleich beginnen würden, umspielte ein freudiges Lächeln ihre Lippen. Ein vertrautes Knistern kam aus den Lautsprechern. Wie oft wohl hatte sie diese Platte mit Giuseppe Verdis großen Arien schon gehört? Gut dreißig Jahre mochte es her sein, da hatte sie mit ihrem Mann in der Arena di Verona Verdis Oper
Aida
besucht. Und am nächsten Tag hatte er ihr diese Platte geschenkt. Mit der linken Hand gab sie dem Orchester ein Zeichen. Auf den Takt genau setzte es ein. Zunächst die Geigen, sanft und schmeichelnd. Dann die Celli, tief und melodisch. Und schließlich der Tenor: »Quando le sere al placido chiaror d’un ciel stellato …« Wenn abends im friedlichen Licht des Sternenhimmels …
    Ottilia Balkow nahm das Rotweinglas, das sie neben dem Grammofon abgestellt hatte, und ging die wenigen Schritte durch die weit offen stehende Terrassentür hinaus ins Freie. Für die alte Dame, sie war fast neunzig, gehörte dies zum allabendlichen Ritual. Sie würde noch dieses eine Glas mit dem schweren, süßlichen Wein trinken, einen Blick hinaus auf den See werfen, die warme Luft einatmen, den Klängen Verdis lauschen und dann zu Bett gehen.
    Seit vielen Jahren schon lebte sie in dieser Villa an den Hängen unterhalb von Albisano am Gardasee, an jenem östlichen Ufer, das die Riviera degli Olivi genannt wird und zum Veneto gehört. Bei Tag reichte der Blick über die Dächer des mittelalterlichen Orts Torri del Benaco, über das Kastell und die Kirche weit hinaus auf den See, der sich im Norden fjordähnlich verengt und nach Süden zur Ebene hin öffnet. Links die märchenhafte Isola del Garda, am anderen Ufer die sanften Hügel von Gardone, dahinter die felsigen Gipfel des Monte Spino und des Monte Pizzòcolo.
    Jetzt, spät am Abend, es ging bereits auf Mitternacht zu, da ahnte man nur die Silhouetten der hohen Pinien, die rechts und links der Terrasse standen. Die alte Dame richtete den Blick hinauf zu den Sternen, die der Tenor in Verdis Oper
Luisa Miller
gerade gepriesen hatte. Sie sang leise mit: »Che sembrò l’empireo aprirsi all’alma mia.« Dass sich der Himmel meiner Seele zu öffnen schien.
    Ottilia Balkow liebte das begleitende Zirpen der Zikaden, das den Arien von Verdi ein ganz besonderes, mediterranes Flair verlieh. Nach einem Schluck aus dem Glas ging sie vor zum Geländer. Die Schatten vor ihr, das waren knorrige Olivenbäume, viel älter noch, als sie es war. Bestimmt einige hundert Jahre alt. Die Olivenbäume hatten schon Generationen überlebt. Und sie würden auch sie überleben. Für Ottilia Balkow waren die Olivenbäume weniger wegen ihres zarten und nussigen Öls von Bedeutung, das sie gleichwohl sehr zu schätzen wusste. Sie waren in ihren Augen in erster Linie Symbole, Mahnmale der Ewigkeit.
    Sie dachte an ihren Mann, der schon lange tot war, und an ihre Tochter Patrizia, die Selbstmord begangen hatte. Wie lange war das jetzt her? Zehn Jahre, ja, genau vor zehn Jahren hatte sich Patrizia umgebracht. In England, dort, wo sie mit einem Maler verheiratet gewesen war. Ottilia Balkow seufzte. Das war wohl der Tribut, den man dafür zahlen musste, wenn man ein solches Greisenalter erreichte. Man musste den Verlust von Menschen hinnehmen, die einem nahe standen und eigentlich noch gar nicht an der Reihe waren. Manchmal plagten sie Schuldgefühle, dass sie noch lebte und sich bester Gesundheit erfreute. Aber nur selten, denn im Grunde war sie mit sich und ihrem Schicksal zufrieden. Ottilia Balkow lächelte. Ja, und in Augenblicken wie diesem, da war sie glücklich, ausgesprochen glücklich.
    Ein ereignisreiches Leben lag hinter ihr. Die Ehe mit einem Diplomaten hatte sie in ferne Länder geführt. Die fremden Kulturen hatten sie fasziniert, der Kontakt zu den Menschen war ihr immer wichtig gewesen. Aber nirgends hatte es ihr so gut gefallen wie hier am Ufer des Gardasees. Vor allem im Frühling, wenn auf dem Monte Baldo noch Schnee lag und gleichzeitig die Pfirsichblüten ihren Garten mit einem rosa Schleier überzogen. Und im Herbst, wenn die Heerscharen der Touristen wieder entschwunden waren, die Luft noch warm war und das Licht auf dem See von schimmerndem Glanz. In den Wintermonaten, die sich oft von ihrer kalten und unwirtlichen Seite zeigten, in denen Nebel aus der Poebene heraufkroch, da fuhr sie immer noch
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