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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Autoren: Charlotte Link
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und als Belinda sie fassungslos ansah, setzte sie heftig hinzu:
    »Bitte, Belinda, versuche gar nicht erst, das alles zu verstehen. Diese Dinge hast du noch nie verstanden. Und sieh nicht drein, als sei schon das Jüngste Gericht über dich hereingebrochen! Noch ist gar nicht sicher, daß wir sterben!«
    Leider verließ Belinda für die folgenden Stunden das Zimmer nicht, sondern blieb zusammengekrümmt und laut weinend in ihrem Sessel sitzen. Sie preßte die Hände auf die Ohren, wenn das Artilleriefeuer besonders laut herüberdröhnte, oder betete leise vor sich hin, wenn für einen Augenblick Ruhe eintrat.

    So verlebten sie den ganzen Tag, das Ende der Kämpfe in der Nacht, dann den verregneten Anbruch des nächsten Tages. Sie sahen das geschlagene preußische Heer vorüberziehen, erschöpfte, verschmutzte Männer mit grauen, eingefallenen Gesichtern, Pferde, die aus irren, entsetzten Augen blickten, Tragbahren mit Verwundeten, blutend, stöhnend oder sterbend; manche von ihnen konnten sich nicht halten und rollten kraftlos in den nächsten Straßengraben oder auf einen gänseblümchenbewachsenen Wiesenrand, wo sie unbeachtet liegenblieben. Halb abgedeckte, von Kugeln durchsiebte Planwagen rollten vorüber, die Gewehre, Munition und Essensvorräte geladen hatten, schwarze, schwere Kanonen wurden halb von Pferden gezogen, halb von Männern geschoben, und irgend jemand schleppte eine zerfetzte preußische Fahne mit sich herum, deren Gewicht ihn fast zu Boden drückte. Es war ein Zug voller Elend und Jammer, und der stetig fallende Regen, die vom Wind zerzausten Bäume, kreischende schwarze Vögel am Himmel gaben der Szenerie etwas grauenvoll Unwirkliches. Joanna und Belinda standen am Fenster und sahen mit brennenden Augen hinaus. Belinda war auf einmal fest davon überzeugt, daß Sir Wilkins gefallen war, und Joanna dachte an George. Bei der Vorstellung, er könne ebenso blutig und zerschlagen wie die Männer vor ihr auf einer Tragbahre oder auf einem feuchten Acker liegen, hätte sie weinen mögen.
    Vor zwei Abenden, dachte sie, hat er noch getanzt.
    Später zogen die Franzosen vorüber, die unter der Führung von General Grouchy die preußische Armee verfolgten. Hätte Joanna nicht gehört, daß die Franzosen als Sieger aus der Schlacht von Ligny hervorgegangen waren, sie hätte keinen Unterschied zu den Preußen festgestellt.
    Die Sieger schienen ihr ebenso am Ende zu sein wie die Verlierer, und bloß wenn man ihr Geschick kannte und genau hinsah, konnte man erkennen, daß die französischen Soldaten weniger niedergeschlagen und verzweifelt wirkten als die Preußen. Aber natürlich trat auch in ihren Zügen die Angst hervor, die sie empfanden, denn sie wußten, daß die eigentliche Entscheidung noch
nicht gefallen war, und gleichzeitig waren sie sich darüber im klaren, daß ihre entscheidende Kraft bereits verbraucht war. Es hatte zu viele Tote gegeben, sie hatten wenig Munition übrig, und ihr Anführer, Napoleon, an dessen Siegesgewißheit sich seine Armeen immer geklammert hatten, schien krank und am Ende seiner Kräfte.
    Als der nächste Tag, ein Sonntag, anbrach, standen sich das englische und das französische Heer südlich des Mont St. Jean gegenüber. Am späten Vormittag gab Napoleon das Zeichen zum Kampf. Joanna, Belinda und Edward, die nun schon den dritten Tag in dem engen Zimmer des Gasthofes beieinander saßen, schraken zusammen. Belinda schrie auf.
    »Nein! Nein, nicht schon wieder! Nein, ich halte es nicht länger aus!« Sie krümmte sich zusammen vor Entsetzen, als die dumpfen Kanonenschüsse zu ihnen herüberdrangen.
    »Ich will hier weg! O Gott, bitte, Joanna, bring mich hier weg! Ich will nach Brüssel, ich will zu meinen Kindern! Ich will weg!« Joanna versuchte sie zu beruhigen, aber Belinda stieß sie weg und schrie ohne Unterlaß. Erst am Nachmittag brach sie erschöpft zusammen, nachdem ihre Stimme bereits nichts weiter als ein heiseres Krächzen war und ihre Hände so zitterten, daß sie nicht einmal ein Glas Wasser zum Mund führen konnte, ohne alles zu verschütten. Zu diesem Zeitpunkt mußte der Kampf seinen Höhepunkt erreicht haben, denn es langten Scharen von Flüchtlingen aus der Gegend von Waterloo an, die mit großen, schreckensvollen Augen von einem Gemetzel berichteten, das grausamer sein sollte als alles, was die Geschichte je hervorgebracht hatte.
    »Es sind so viele gefallen, daß niemand sie wird zählen können«, stieß eine Frau atemlos hervor, die ihren gesamten
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