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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Autoren: Charlotte Link
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Mitternacht richtete sich der Wirt auf, er schien zu lauschen, auf seinem Gesicht malte sich Grauen.
    »Hört ihr?« flüsterte er. »Hört ihr das?« Alle hielten den Atem an. Durch die festen Steinmauern des Kellers drangen kaum Geräusche, aber jetzt konnte jeder von fern ein Dröhnen hören, gleichmäßig und anhaltend. Es kam ihnen auf einmal vor, als bewege sich die Erde.
    »Was ist das?« fragte Belinda mit heiserer Stimme.
    »Die Franzosen«, erklärte der Wirt, »sie kommen von Waterloo. Sie müssen nach Charleroi und dann über die Grenze, sonst geht es ihnen schlecht. Ich wette, die anderen verfolgen sie.«
    »Werden sie uns etwas tun?«
    »Ich denke mir, die haben es zu eilig. Aber ich bleibe hier unten und rühre mich nicht!«
    Alle schwiegen, dann stand Joanna auf.
    »Ich möchte mir das ansehen«, sagte sie.
    Vorsichtig balancierte sie über die vielen ausgestreckten Beine und stieg langsam die Treppe hinauf. Nirgendwo schien ein Licht, aber als sie an eines der Küchenfenster trat, lag vor ihr sternenhell die Nacht. Sie atmete hörbar, in ungläubigem Staunen. Denn dort draußen zog ein endloser Menschenstrom vorüber, Hunderte und Tausende, ein Soldat nach dem anderen, über den Weg, über die Felder und stumpf und gleichgültig über die Leichen ihrer gefallenen Kameraden hinweg. Kanonen wurden vorbeigeschoben, Pferde trotteten vorüber, Soldaten stützten Verwundete oder schleppten sich selber, verletzt oder nur zutiefst erschöpft, auf ihre Gewehre gestützt den Weg entlang. Andere brachen am Ufer des Garmioncourt-Baches zusammen und schöpften gierig mit beiden Händen Wasser, tranken es, spülten es über ihre Wunden oder benetzten sich die Gesichter damit. Manche fielen hin und standen überhaupt nicht mehr auf, manche krochen auch auf allen vieren weiter. Jede einzelne Gestalt
war in der klaren Nacht deutlich zu erkennen. Der Strom von Menschen bot einen grauenerregenden, gespenstischen Anblick. Immer wieder hallten Rufe durch die Dunkelheit: » Lauft weiter! Weiter! Die Preußen kommen!« Und alle rafften sich noch einmal auf und taumelten voran.
    Joanna spürte eine Bewegung hinter sich und wandte sich erschrocken um. Es war Edward, der hinter ihr stand.
    »Die Franzosen«, murmelte er, »sieh sie dir nur an. Sie sind am Ende!«
    Eine kleine Gruppe von Reitern hielt dicht vor dem Wirtshaus. Ihre Pferde blieben mit hängenden Köpfen stehen und suchten auf der lehmigen Erde nach etwas Gras.
    Edward und Joanna wichen in den Schatten des Zimmers zurück.
    »Was wollen die?« frage Joanna leise.
    »Ich nehme an, sie müssen ausruhen. Die Pferde brechen ja gleich zusammen.«
    Unbemerkt waren der Wirt und seine Frau herangekommen; mit großen Augen sahen sie nach draußen. Niemand sagte etwas, jeder beobachtete nur die Reiter, die, sich leise unterhaltend, vor dem Fenster ihre Pferde verschnaufen ließen. Einer von ihnen blickte plötzlich zurück, schrak zusammen und nahm eine aufrechte Haltung an.
    »Der Kaiser«, sagte er, »der Kaiser kommt!«
    In die Gruppe kam Unruhe. Joanna vergaß alle Furcht. Sie preßte ihr Gesicht dicht an die Fensterscheibe, nun hellwach und aufgeregt.
    »Wo ist der Kaiser?« fragte sie. »Ich will ihn sehen!«
    Dann sah sie ihn. Sie zweifelte keinen Moment, daß er es sein mußte, denn er ritt mitten in die kleine Schar von Reitern hinein, auf einem weißen Pferd, zügelte es und blickte sich um. Die anderen verneigten sich leicht, aber keiner sprach ein Wort. Joanna schluckte, Ungläubigkeit trat in ihre Augen.
    »Aber das...«, sagte sie verwundert, »das kann doch nicht... das ist Napoleon Bonaparte?«
    Der Kaiser der Franzosen saß zusammengekrümmt auf seinem
Pferd, die Hände auf den Bauch gepreßt, das Gesicht verzogen, als leide er Schmerzen. Er war klein, mager und völlig zusammengefallen, ein gebrochener, kranker Mann, der sich wegen seines Rheumas und seiner Magengeschwüre kaum noch bewegen konnte und soeben die fürchterlichste und zugleich endgültige Niederlage seines Lebens erlitten hatte. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß, und aus seinen Augen liefen Tränen. Was niemand je für möglich gehalten hätte, geschah in dieser Nacht: Napoleon weinte, und er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, das vor seinen Offizieren zu verbergen. In einer kraftlosen Bewegung fuhr er sich mit der Hand über die Augen, ehe er mit den anderen Reitern ein paar Worte wechselte.
    »Aber es kann nicht sein«, murmelte Joanna. Nie hätte sie sich den großen Bonaparte so
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