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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen
Autoren: Tobias Hill
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mit Dolchen, Händen und Zähnen. Doch die Barbaren begruben sie unter ihren Geschossen. Bis zum letzten Mann wurden sie niedergemacht.
    Nach der Schlacht befahl Xerxes, das Schlachtfeld nach dem Leichnam des Königs abzusuchen. Als man ihn fand, ließ er ihn schänden: Der Kopf des Leonidas wurde abgeschlagen und auf einen Pfahl gesteckt. Ohne Bestattung würde seine Seele niemals ins Totenreich eingehen. Dann zog der Großkönig mit seinen Truppen, seinen achtzigtausend Reitern und zwanzigtausend Wagenlenkern weiter ins Innere Griechenlands.
    Die Schlacht, für die Sparta am besten in Erinnerung geblieben ist, war kein großartiger Sieg, sie war eine grandiose Niederlage. Und sie ist eines der frühesten Beispiele für die Macht des Märtyrertums. Als sich die Geschichte des Opfergangs bei den Thermopylen herumsprach, fassten die Griechen frischen Mut. Nur wenige ließen Xerxes von Neuem Erde und Wasser überbringen. Stattdessen rückten die Hellenen zusammen. Die persische Invasion ging weiter, und sie war fürchterlich – Athen wurde dem Erdboden gleichgemacht –, aber noch im selben Jahr, in dem die Thermopylen fielen, wurde die persische Flotte zerstört, und ein Jahr nach dem Tod des Leonidas sammelten sich die restlichen griechischen Truppen unter dem Oberbefehl der Spartaner. Bei der Schlacht von Plataiai stellten sie sich vereint den Persern entgegen und vernichteten sie.
     
Die Thermopylen. Eine gute Geschichte. Aber nur eine Geschichte. Boten fünftausend Mann dreihunderttausend Soldaten drei Tage lang die Stirn? Sprang der Großkönig dreimal von seinem Thron auf? Vertrieben die Spartaner dreimal die Perser vom Leichnam ihres gefallenen Königs? An all dem ist etwas Wahres, doch es bleibt vage. Herodot von Halikarnassos, der Chronist der Thermopylen, war nicht nur Historiker, sondern auch Geschichtenerzähler. Sein Bericht weist alle Merkmale eines Märchens auf. Wir finden darin nicht die Antworten, die die Geschichte verlangt. Was bewog die Spartaner, so fern der geliebten Heimat zu sterben? Warum gab ihr König sein Leben hin? Worin liegt die Bedeutung, die politische Bedeutung, worin liegt der menschliche Sinn der Inschrift, die sie hinterließen?
     
    Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten,
Du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.
     
    Das Sparta der Thermopylen ist uns durch eine Geschichte überliefert, nicht durch die Geschichte. Ein guter Historiker ist auch Skeptiker. Mit Geschichten kann er sich nicht zufriedengeben. Als einer, der eine Geschichte hört, muss er seinen Unglauben zurückstellen; aber als einer, der die Geschichte studiert, muss er vor allem den Glauben zurückstellen. In der Geschichte von der Schlacht bei den Thermopylen stirbt König Leonidas für die Freiheit Griechenlands. Die Historie aber zeichnet von niemandem ein so klares Bild. Die reine, einfache Wahrheit , so sagt man, ist selten rein und niemals einfach .
    Würde es die Spartaner freuen, dass sie Fiktion geworden sind? Herodots Spartaner sind so radikal, so unergründlich, dass sie jede menschliche Proportion verlieren; sie werden zu einem einzigen monolithischen Ganzen, ohne Furcht und Hoffnung: Sparta.
    So viele Fragen lässt Herodot unbeantwortet. Doch die Spartaner mochten es nun einmal nicht, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Sie gaben keine Antworten. Sie kannten den Wert der Fiktion. Sie wären zufrieden.
     
Mitschrift eines öffentlichen Vortrags,
Cherwell Historical Society,
Ben Mercer, Oxford, 2003.

II
     
    Metamorphosis
     
    Er reiste am Abend ab und kam vor dem Morgen an. Es war Februar, und Athen war so nass wie jede Stadt im Norden. In jenen ersten Tagen genoss er den Regen. Er fand eine Pension am Lykabettos, den er jeden Tag erklomm; sein Herz hämmerte während des Anstiegs, nasse Zypressen und Kiefern durchweichten ihn, wenn der Wind in sie hineinfuhr, und die Luft unter den Bäumen war von Harzduft geschwängert.
    Doch plötzlich begann ihn das Wetter niederzudrücken. Es erinnerte ihn an Oxford und an alles, was mit Oxford zusammenhing. Es wurde zu einer Bürde, die er von Ort zu Ort schleppte, den Kopf gesenkt, als strafte ihn der Regen.
     
Denen, die er verließ, hatte er gesagt, es warte Arbeit auf ihn. Drei Monate als Lehrer an einem privaten College. Eine Lüge, um sie zu beruhigen oder um unliebsamen Fragen zuvorzukommen, je nachdem, wem er es sagte. Nur Emine hatte ihm nicht geglaubt.
    Sooft es ihm möglich war, verlor er sich im Gehen. Die
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