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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen
Autoren: Tobias Hill
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wird die Tasche sehen. Wir stellen sie hinter ihm ab.«
    »Und wenn er es niemandem sagt?«
    »Das wird er schon tun. Sie wird ihm Angst machen. Ben?«
    »Ja?«
    »Schau nicht hinein.«
    »Warum nicht?«
    »Versprich’s mir.«
    »Okay.«
    »Ich liebe dich.«
    »Ich liebe dich auch«, sagte er, doch die Verbindung war schon gekappt.
    Er lehnte sich auf dem Sitz zurück. Sein Hinterkopf pochte, als wartete dort jemand im Dunkeln. Als säße dort eine Gestalt, die ihn anstarrte.
    Schau nicht hinein.
    Versprich’s mir.
    Müde drehte er sich um und griff nach der Sporttasche. Sie war schwer und unförmig, und er musste ziehen und zerren, um sie zwischen den Sitzen hindurch nach vorn zu bekommen.
    Eine lange Zeit saß er nur da, die Tasche auf dem Schoß, die Hand auf der Tasche. Fünf Minuten vergingen, sechs, dann zog er langsam den Reißverschluss auf.
    Es war nichts darin, was nach einer Nachricht aussah. Es war überhaupt nichts darin außer einer Tupperschüssel. Sie war übergroß, die größte von denen, die sie in dem Labor verwendet hatten. Es war etwas darin. Was, war nicht zu erkennen. Eine undefinierbare runde Masse.
    Er dachte an das Labor. Natsukos Gesicht, als sie sich ihm zuwandte, angstvoll, aber tapfer. Selbstgerecht trotzig, wie eine Katze, die man mit einem totgebissenen Beutetier erwischt hat. Und lächelnd, die Augen zu Halbmonden verengt. Ihn arglos beobachtend.
    Natsuko ist furchtlos, sie stellt sogar Max in den Schatten. Ich vermute, sie wäre draufgängerischer als jeder andere von uns, wenn es hart auf hart käme.
    Er zog langsam den Deckel von der Tupperschüssel ab.
    Etwas dunkel Eingewickeltes. Blutiges Zeitungspapier. Aus irgendeinem Grund dachte er an Foyt, den Dreckskerl, den Dieb in der Nacht. Aber Foyt war kein Dieb, und das Ding in dem Zeitungspapier hatte nichts mit ihm zu tun. Es erinnerte ihn nur an das Hähnchen, das besondere Gericht, das Emine einmal für ihn zubereitet hatte.
    Er ist ein mieser, eingebildeter alter Gockel.
    Oh, der Anblick dieser Krallen hatte ihm gar nicht gefallen; aber das Fleisch war so gut gewesen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte.
    Er stöhnte. Er war wirklich dabei, den Verstand zu verlieren, oder? Das Ding auf seinem Schoß hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gockel. Sein Verstand suchte nach Ausflüchten, wollte an alles denken, nur nicht an dieses Ding, das so viel blutiger war als das Hähnchen, und schwerer, schwer wie ein Kantharos. Es hatte weniger Fleisch. Mehr Knochen.
    Ein Schauder überlief ihn. Er schloss die Augen. Seine geistige Gesundheit war immer schon zart gewesen, prekär wie die Oberflächenspannung von Wasser. Er konnte sich kaum dazu überwinden, noch einmal hinzuschauen, um sich darüber klar zu werden, was er da in Händen hielt.
    Das eingewickelte Gesicht schaute zu ihm auf. Er sah Kirons Augenhöhlen.
    »Natsuko«, sagte er, »ach, Natsuko.« Aber er hatte angefangen zu weinen, und seine Zähne klapperten, verstümmelten den Namen, zermanschten ihn.
    Er stieß den Kopf von sich weg. Seine Füße verfingen sich in den Gurten der Tasche. Er stolperte auf die Straße hinaus, strauchelte vorwärts und erbrach sich in den Rinnstein. Das Handy klingelte, seine Geliebte rief ihn an.
    Und jetzt? Jetzt lief er wieder davon. War immer noch ein Feigling, immer noch auf allen vieren. Wie albern, dachte er. Wie erbärmlich ich bin!
    Er hörte Applaus – war Eberhard in der Nähe? –, und dann verlor sich das Geräusch im Crescendo einer Autohupe. Scheinwerfer blendeten ihn und schwenkten vorbei. Er kroch weiter, seitwärts, wie ein angefahrener Hund. Er schaute zu all den Leuten auf, die seine Blicke erwiderten.
    Geht weg von mir , wollte er sagen, aber das Einzige, was er hervorbrachte, war Natsukos Name. Und trotzdem schien es, als sei ihr Name genug, denn die Menge der Flaneure teilte sich, ihre menschlichen Bestandteile wichen vor ihm zurück.
    Er kam auf die Füße. Fremde bewegten sich weiter um ihn herum, in gebührendem Abstand.
    Er konnte immer noch etwas für sie tun. Er kam zu Atem und begann zu sprechen. Er sagte ihnen, was hier passierte, sagte ihnen alles, was er zu sagen hatte, alles, was er wusste, er hatte keine Geheimnisse mehr, vor niemandem.
    Niemand hörte ihm zu. In seiner Verzweiflung biss er die Zähne zusammen. Er hatte nicht die Zeit, sie zu überzeugen. Gleich würde Natsuko kommen, um ihn zu holen. Der Gedanke entsetzte ihn.
    Da stand das Auto, die Türen noch immer weit geöffnet, wie Arme. Er bewegte
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