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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung
Autoren: Nicolas Remin
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Positionslichter von Schiffen wirkten.
    Angelina Zolli war zu dem Schluss gekommen, dass dies  nicht die besten Bedingungen dafür waren, jemanden in  einer Menschenmenge zu entdecken, ihm unauffällig zu  folgen und festzustellen, wo er wohnte.
    Außerdem war die Gewissheit der letzten Tage, dass sie  den Mann in absehbarer Zeit wiedersehen würde, inzwischen einer realistischeren Einschätzung der Lage gewichen.
    Natürlich war es denkbar, dass sie zum zweiten Mal auf den Mann stieß. Aber es war ebenso denkbar, dass sie ihn wochenlang verfehlte. Oder dass der Mann überhaupt nicht mehr in Venedig war. Oder – und das war die schlimmste  Variante – dass er sie entdeckte, bevor sie ihn sah. Was sie spätestens dann bemerken würde, wenn sich in irgendeinem dunklen Winkel der Stadt ein paar Finger um ihren Hals legten.
    Wahrscheinlich, sagte sie sich, als sie die Frezzeria passierte, wahrscheinlich war es doch klüger, Commissario Tron ins Vertrauen zu ziehen. Ihm zu sagen, dass sie den Mann wiedergesehen hatte – ihn wieder erkannt hatte – und ihn deshalb beschreiben konnte. Eine Beschreibung war kein Name, aber es war mehr, als der Commissario im  Moment hatte. Ja, dachte sie mit einem Gefühl der Erleichterung. Morgen würde sie dem Commissario einen Besuch abstatten. Nicht auf der questura, sondern im Palazzo Tron – schon wegen des Kakaos, den ihr Signor da Ponte bestimmt wieder anbieten würde.
    Angelina Zolli blieb einen Moment stehen, um sich zu  orientieren – ein Unding eigentlich, denn diesen Teil Venedigs kannte sie in- und auswendig. Doch die Sicht war jetzt auf drei Schritte geschrumpft – kein Wunder, dass sie  keiner Seele begegnet war, seitdem sie den Markusplatz  verlassen hatte. Niemand setzte an einem solchen Abend  freiwillig einen Fuß vor die Tür.
    Wo also war sie eigentlich? Vermutlich stand sie auf dem Campo San Moisè. Nicht, dass sie etwas erkennen konnte, aber der Klang ihrer Schritte hatte sich verändert – das kleine Echo, das die nahen Hausfassaden zurückgeworfen hatten, war kaum noch zu hören. Sie lief vorsichtig weiter und atmete nach ein paar Metern erleichtert auf, als sie auf die Stufen des Ponte San Moisè stieß, der über den Rio dei Barcaroli führte. Wenigstens hatte sie sich nicht verirrt – was natürlich albern gewesen wäre, aber an solchen Tagen war alles möglich.
    Als sie die Brücke überquert hatte, hörte sie Schritte  hinter sich. Ohne nachzudenken, bog sie abrupt in die Calle delle Veste ab, beschleunigte ihren Schritt und registrierte mit aufsteigender Panik, dass die Person – wer immer es war – ebenfalls in die Calle delle Veste abgebogen war.
    Und dass die Schritte in ihrem Rücken ebenfalls schneller geworden waren.
    Jemand folgte ihr.
    Angelina Zolli blieb stehen. Sie hörte ihre Atemzüge –  kurzes, hektisches Luftholen – und spürte eine Gänsehaut auf ihrem Rücken. Jetzt war die Calle delle Veste hinter ihr wieder still. Keine Schritte, kein Klappern der Absätze auf dem Pflaster, was nur bedeuten konnte, dass ihr Verfolger jetzt ebenso in die Dunkelheit hinein lauschte wie sie.
    Dann setzte ihr Verfolger sich wieder in Gang, und als  sie hörte, wie seine Schritte auf sie zukamen, tat sie das, was jeder vernünftige Menschen in ihrer Lage getan hätte: Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, nahm sie in die Hand und rannte in die Dunkelheit hinein.

    Fünf Minuten später betrat Angelina Zolli das Mittel schiff von Santa Maria Zobenigo mit einem Gefühl der  Dankbarkeit und der Erleichterung – der Gedanke, dass sie sich die Verfolgung nur eingebildet haben könnte, kam ihr gar nicht. Sie ging zum Weihwasserbecken, tauchte ihre rechte Hand in das Wasser und bekreuzigte sich. Eine alte Frau kniete vor dem Hauptaltar – hinter dem der Putzeimer und der Besen standen. Ihr monotones Murmeln zusammen mit dem Geruch des Weihrauchs erzeugten eine Atmosphä re tiefen, überirdischen Friedens, und Angelina Zolli musste unwillkürlich daran denken, dass die Kirchen früher einmal (Pater Maurice hatte ihr davon erzählt) Orte der Zuflucht gewesen waren.
    Genau so fühlte sie sich jetzt: entkommen, beschützt, in Sicherheit. Das war ein gutes Gefühl, ein erhebendes Gefühl.
    Und so betrachtet, dachte Angelina Zolli ein wenig schuldbewusst, war es nur fair, dass man den Tempel des Erlösers entsprechend sauber hielt – auch in den Ecken.
    Dann tat sie etwas, das sie normalerweise nie (oder nur sehr selten) aus eigenem Antrieb tat:
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