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Vanilla aus der Coladose

Vanilla aus der Coladose

Titel: Vanilla aus der Coladose
Autoren: Eva Hierteis
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Gleich
Geisterstunde
. Als sie klein war, hatte ihr dieses Wort Gänsehaut gemacht. Genauso wie
blutrünstig
. Aber das war zum Glück schon lange her.
    Laili drehte sich auf die andere Seite und zog sich die Decke bis zu den Ohren hoch.
    Die oberste Coladose wackelte.
    Laili erstarrte und lauschte. Was war das? Nagelte ihre Mutter neue indische Tücher an die Wand? Vermöbelte Matilda drüben in ihrem Zimmer ihre Puppen? Feierte Olaf in seiner Totenkopfbude eine schwarze Messe?
    Krrrk! Tock!
Ein unheimliches Schaben, ein Kratzen, ein Pochen.
    Hicks!
, machte Laili. Oh nein! Jetzt ging das wieder los. Sie bekam immer Schluckauf, wenn sie aufgeregt war.
Hicks!
    Die oberste Dose wackelte. Wackelte hin und her wie ein Kuhschwanz und gab ein blechernes Geräusch von sich.
    Was war das,
hi-hicks?
    Das kam nicht von nebenan. Das kam von . . . ja, das kam von der gegenüberliegenden Wand. Laili starrte hinüber. Im fahlen Mondlicht hob sich ihre Coladosensammlung wie ein schwarzer Schatten von der hellen Wand ab.
    Tock, tock, tock!
    Es klang, als würde jemand anklopfen. Und dann sah sie es: Die oberste Dose ihrer Sammlung neigte sich gefährlich zur Seite. So verharrte sie einen Moment lang, bevor sie wieder zurückkippelte.
    Laili schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Oh nein! Ihre schöne, tolle, neue, alte türkische Dose. Das Prachtstück ihrer Sammlung. Es wackelte immer stärker, neigte sich noch weiter und weiter. Und kippte vom Stapel.
    Draußen begann die Kirchturmuhr, tief und dumpf zu schlagen. Es war Mitternacht.
    Die Kirchturmuhr schwieg. Doch Lailis Herz ratterte und dröhnte wie ein Presslufthammer. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Dunkelheit.
    Stille.
    Nach einer Weile löste sie sich aus ihrer Erstarrung und tastete mit zittrigen Fingern nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe. Geblendet kniff sie die Augen zu, als ein greller Lichtblitz aufflammte.
    Laili schattete die Augen mit der Hand ab und sah sich ängstlich um.
    Die Dose war noch ein Stück über den Boden gekullert und auf dem Flauscheteppich vor dem Bett liegen geblieben. Laili schaute sie einfach nur an. Schaute. Und schnaufte. Und hickste.
    Tock
, machte die Dose.
Tock, tock, tock, tock.
    Hi-hicks!
, machte Laili. Mit der Dose stimmte was nicht. Da war was drin! Irgendwas. Es gab keine andere Erklärung. Zögernd beugte sich Laili aus dem Bett, streckte die Hand aus und tippte die Dose an. Sie rollte hin und her, dann lag sie wieder still. Laili wartete ein bisschen. Als nichts geschah, hob sie sie vorsichtig auf und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett.
    Als sie die Dose schüttelte, hörte sie ein dumpfes Geräusch. Und dann ein Grunzen, ein leises, helles Grunzen wie von einem Miniaturferkel. Mit bebenden Fingern griff Laili nach der silbernen Öffner-Lasche, gab sich einen Ruck und zog sie nach oben.
    Zschhhhhhh
, entwich die Kohlensäu . . .
    Doch nein. Vor Lailis Augen zischte eine schillernde, flimmernde goldsilberne Glitzerwolke aus der Öffnung, die sich alsbald zu einer schlanken Säule türmte und Gestalt annahm. Das war keine Kohlensäure!
    Laili kniff die müden Augen zusammen. Guckte. Rieb sich die Augen. Linste noch einmal. Rubbelte kräftiger. Blinzelte. Hickste. Half nichts. Vor ihr stand ein wunderschönes Mädchen. Nein, es stand nicht, sondern es schwebte über dem Flauscheteppich. Mit Schwung warf es seine langen schwarzen Haare zurück und winkte Laili zu. »Hallöchen.«

D ies war die seltsamste Nacht, die Laili je erlebt hatte. Und es sollten noch viele seltsame Nächte und Tage folgen. Denn als Laili die Dose öffnete, änderte sich ihr Leben.
    Laili starrte das Mädchen mit großen, runden Kuhaugen an.
    »Hallööööööchen!«, flötete das Mädchen ein zweites Mal, weil Laili nicht reagierte. Es überkreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich leicht. Dabei fielen ihre Haare nach vorne. Und was für Haare das waren! Glatt und seidig und glänzend ergossen sie sich wie flüssige Kohle über ihre Schultern bis hinunter zum Po. Haare wie aus Tausendundeiner Nacht. Wie Samt und Seide. Schwarz wie die Nacht und glänzend wie die Sterne. Über der rechten Schläfe des Mädchens blühte eine sternförmige rosa Lotosblüte, und an ihren Ohren funkelten große silberne Creolen. Zu einem grünen Top trug sie eine silberne Pumphose, die von Goldfäden durchwirkt war. An ihren Füßen leuchteten silberne Pantoffeln mit orientalischem Muster und einem großen Loch vorne, aus dem die Zehen
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