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Vanessa, die Unerschrockene

Vanessa, die Unerschrockene

Titel: Vanessa, die Unerschrockene
Autoren: Joachim Masannek
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Es klang wie ein echtes und wildes Geburtstagsschlaflied, und bald schlief ich fest und träumte davon, in einem Baumhaus zwischen den Balken des Dachstuhls meines Zimmers zu wohnen.

Oma-oh-je-oh-je, Oma-oh-Schreck!
    Ich schlief bis spät in den nächsten Morgen hinein. So erschöpft war ich vom vergangenen Tag und so gut ging es mir nach der Geburtstagsgrusel-Mitternacht mit meinem Vater. Erst gegen elf stapfte ich verschlafen und orientierungslos in die Küche und suchte den Kühlschrank, als mich eine Stimme ansprach, die ich nur allzu gut kannte: „Ogottogott, wie siehst du denn aus?“
    Ich drehte mich ganz langsam um. Die Frau, die zu dieser Stimme gehörte, trug ein rosa Kostüm mit passendem Hut und Kunstledertäschchen. Mit ihren achtundsiebzig Jahren sah sie aus wie eine gefriergetrocknete Barbiepuppe. Deshalb hätte ich ihr den gleichen Satz zurückgeben können: „Ogottogott, wie siehst du denn aus?“
    Doch im Gegensatz zu ihr konnte ich mich beherrschen. Ich war die Freundlichkeit in Person.
    „Oh hallo, Oma! Das ist aber nett, dass du mir zum Geburtstag gratulierst“, säuselte ich zuckersüß wie eine mit Schokolade überzogene Schlange.
    Oma Schrecklich verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Du machst es einem ja unmöglich, wenn du den ganzen Tag pennst!“, antwortete sie schnippisch und musterte mich von den zerzausten Haaren über das Fußballtrikot hinab bis zu den offenen Boots meines Vaters, die ich mangels Hausschuhe trug. „Ja, und eigentlich bin ich gekommen, um meiner Enkelin zu gratulieren und nicht einem grässlichen Troll!“ Oma Schrecklich rümpfte die Nase und warf meinem Vater, der mit ihr am Frühstückstisch saß, einen vorwurfsvollen Blick zu. „Oder denkst du, dass das, was da vor uns steht, noch aussieht wie ein richtiges Mädchen? Nein, Lars-Malte, das ist fast schon ein Junge und ich sag dir, du wirst sie noch komplett ruinieren, wenn du dir nicht endlich eine Frau ins Haus holst. Ja, und falls du das nicht mehr schaffst, stehe ich dir gern zur Verfügung.“
    Mein Vater verschluckte sich an dem Brötchen, das er gerade aß. Dann hob er dankend die Hände. „Huh, das ist sehr nett von dir, Mama. Aber ich glaub, wir schaffen das noch allein. Weißt du, Marion wär stolz auf ihre Tochter gewesen. Davon bin ich fest überzeugt.“
    „Marion! Immer nur Marion“, schnippte Oma Schrecklich wie eine eifersüchtige rosa Gurke. „Marion ist seit über einem Jahr tot, Lars-Malte, da kann man nichts gegen tun! Und man kann auch nicht zwischen den Stühlen sitzen, Vanessa. Ein Junge bleibt ein Junge, und ein Mädchen ein Mädchen. Das ist nun mal so. Basta und Schluss!“ Oma Schrecklich wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Ich bin ja auch nicht Schwergewichtsboxer geworden.“
    „Puh, da hatte Muhammad Ali aber verflixt noch mal Glück!“, grinste ich, schlug das fünfte Ei in den Mixer und schaltete das Gerät ein. Oma Schrecklich sprang entsetzt auf.
    „Ogottogott! Was machst du denn da?“, rief sie.
    „Frühstück“, antwortete ich trocken.
    „Aber es steht doch schon alles hier auf dem Tisch, Vanessa!“, schimpfte Oma Schrecklich und ich warf einen Blick auf die rosa Geburtstagstorte, die sie mitgebracht hatte.
    „Huh!“, stöhnte ich. „Die sieht ja genauso aus wie dein Hut!“ Dann schaltete ich den Mixer aus, hob den Glasaufsatz ab, trank ihn in einem Zug aus und rülpste ein „Tschuldigung! Aber, weißt du, ich steh nicht auf süßes Barbiepuppenpinkmarzipan. Das ist nun mal so. Basta und Schluss!“
    Ich sagte das ganz ruhig und nett mit einem Unschuldsengelsgesicht. Und Oma Schrecklich brauchte mindestens fünfzehn Sekunden, was ein neuer Weltrekord war, um eine Antwort zu finden.
    „Nun, wie du willst“, warf sie beleidigt den Kopf in den Nacken. „Aber du wirst an mich denken. Das sage ich dir. Und das Geburtstagsgeschenk wird dir auch nicht gefallen. Es ist nämlich rot!“
    „Puh, dann ist es zumindest nicht pink!“, rief ich erleichtert und lief zum Paket auf dem Tisch. Wenn ich schon Pumps kriegen sollte, dann zumindest keine in Rosa. Ich riss das Geschenkpapier auf, fand den erwarteten Schuhkarton und öffnete den Deckel.

    Für einen Moment war ich sprachlos.
    „Ich hab doch gesagt, sie sind rot!“, motzte Oma Schrecklich. „Und ich tausche sie mit Sicherheit auch nicht um. Ogottogott. Schon das Kaufen war peinlich genug!“
    Ich schaute zu meinem Vater: „Und sie hat dich wirklich nicht umgebracht?“
    Mein
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