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Vanessa, die Unerschrockene

Vanessa, die Unerschrockene

Titel: Vanessa, die Unerschrockene
Autoren: Joachim Masannek
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Lächeln, das ich nicht nur an ihm, sondern an allen Erwachsenen hasste. Es war dieses Pusteblumen-Seifenblasen-Lächeln, mit dem sie uns Kindern vormachen wollen, dass unsere Probleme in Wirklichkeit überhaupt keine richtigen Probleme sind. Wir haben es nur noch nicht erkannt und begriffen. Doch das werden wir bald, und dann werden unsere Probleme verschwinden, als blase man in eine Pusteblume oder als steche man mit dem Finger in eine Seifenblase hinein.
    „Ich bin müde“, sagte ich nur. „Zeigst du mir bitte mein Zimmer?“
    Das Pusteblumen-Seifenblasen-Lächeln auf dem Gesicht meines Vaters verschwand. Er nickte, nahm meine Tasche und führte mich quer durch die Wohnzimmerhalle zu einer niedrigen, uralten Tür. Doch sie war gar nicht so niedrig. Es führten nur drei kleine Stufen zu ihr hinab. Auf ihnen blieb mein Vater noch einmal stehen.
    „Alles was hinter dieser Tür liegt, gehört dir. Dort gelten deine Gesetze und Regeln.“
    Ich zuckte die Achseln. Die Tür sah für mich eher wie eine Kerkertür aus, und diese Kerkertür stieß mein Vater jetzt auf. Lautlos und unwiderruflich.
    Das Zimmer, das hinter der Kerkertür lag, war phantastisch. Es war wild, hatte fünf oder sechs windschiefe Ecken und Wände mit zahlreichen Nischen und reichte bis in den Himmel empor. So erschien es mir im ersten Moment, doch dann wusste ich’s besser. Das Zimmer lag in dem Teil des Hauses, an dem das Dach bis auf den Boden hinab reichte und über mir verzweigten sich die Balken des Dachstuhls wie die kräftige Krone eines uralten Baums. Da oben könnte man wirklich ein Baumhaus bauen, dachte ich, und vor ein paar Tagen hätte ich bestimmt schon am nächsten Morgen damit angefangen. Doch jetzt war mir das alles egal. Ich ging zu der Matratze, die mitten im Raum auf dem Boden lag, und setzte mich.
    Mein Vater hatte wohl mehr Freude erwartet. Doch er beherrschte sich.
    „Es ist sehr schwer für dich, hab ich Recht?“, fragte er mich, und ich schaute als Antwort auf meine Füße.
    „Weißt du, Vanessa, es ist auch sehr schwer für mich. Wir fangen beide ganz von vorn an und keiner kann dem anderen helfen. Wenn du den Ball hast, bist du auf dich gestellt. Ganz allein. Das weißt du genauso wie ich. Aber die anderen können sich freilaufen, und dich unterstützen. Ich kann mich freilaufen und du kannst es auch.“
    Mein Vater hockte sich in respektvollem Abstand vor mich hin und schaute mich an.
    „Was meinst du, Vanessa, schaffen wir das? Sind wir ein Team?“
    Ich hob meinen Kopf, ganz langsam, und sah ihn an.
    „Ich hab kein Team mehr“, sagte ich.
    Tränen schossen mir aus den Augen.
    „Hast du das endlich kapiert? Ich hab kein Team mehr!“
    Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen. Für einen Moment war es still. Dann hörte ich die Schritte meines Vaters, und ein paar Augenblicke später fiel die Zimmertür ins Schloss.

Geburtstagsgruselmitternacht
    Zwei Stunden später lag ich immer noch wach. Es war kurz vor Mitternacht, und der Wind heulte und pfiff um das Haus, als sei es verflucht.
    Ich erzähle euch hier keine Gruselgeschichte. Ich bin Vanessa, die Unerschrockene. Doch was nutzt einem alle Furchtlosigkeit, wenn die Situation aussichtslos ist. Ja, aufgeben ist schlimmer als Furcht oder Angst. Aufgeben ist Ohnmacht. Die fühlt sich so an, als sei man ganz klein und gelähmt. Und wenn man ganz klein und gelähmt ist, dann kommt auch wieder die Angst. Und die Angst, die dann kommt, die hat sich gewaschen. Die ist wie ein Monster, so groß!
    Der Wind pfiff und heulte jetzt noch unheimlicher. Es war eine halbe Minute vor Zwölf. Eine halbe Minute vor meinem neunten Geburtstag. Ich schloss die Augen und wünschte mir, dass ein grässliches Monster erscheinen würde, um mich zu fressen. Dann wär ich endlich erlöst. Und wisst ihr, manchmal gehen Wünsche doch tatsächlich in Erfüllung.
    Der Wind heulte und pfiff, die Fensterläden klapperten und die Dachbalken ächzten und stöhnten. Dann sprang der Zeiger auf Zwölf. Irgendwo, ganz weit entfernt, schlug eine Kirchturmuhr, doch die konnte mich auch nicht mehr schützen. Die schlurfenden Schritte vor meiner Zimmertür hielten an. Roter Rauch drang durch das Schlüsselloch und durch die Ritzen unter der Tür. Dann drückte jemand die Klinke herunter. Ich hielt nicht nur die Luft an, ich stellte mich tot. Eine Nanosekunde später schlug die Tür auf. Feuriger Rauch und gleißendes Licht ergossen sich in mein Zimmer. Ein markerschütterndes Brüllen jagte sie vor sich
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