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Valentine

Valentine

Titel: Valentine
Autoren: Inka-Gabriela Schmidt
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erleben, war etwas völlig anderes. Innerhalb von Minuten galt es , Jahrhunderte zu überspringen und sich anzupassen.
    Valentine bemühte sich – atemlos vor Neugier und Aufregung – , alles in sich aufzunehmen. Ein Fahrradfahrer ohne Licht. Ein Auto mit der Aufschrift Taxi. Ein Mann mit einem großen Hund, der ängstlich einen weiten Bogen um Valentine machte. Hohe Häuser, riesige, prall gefüllte Schaufenster, blinkende Leuchtreklamen , hoch oben elektrische Straßenlaternen, in der Ferne das Brummen von Autos auf einer größeren Straße, Stimmengewirr aus einem gekippten Fenster …
    Ein junger Mann hastete nah an ihr vorbei und sprach in ein winziges Gerät an seinem Mund, von dem ein Kabel zu seinem Ohr führte. Valentine schaute ihm irritiert hinterher, bis sie begriff, dass er in ein Mobiltelefon sprach.
    Allmählich beruhigte sich ihr nervöser Herzschlag. Es war vielleicht doch nicht so schwierig für sie , sich in dieser modernen Welt zu bewegen. Einen Schritt hatte sie schon geschafft. Sie durfte über diesen kleinen Erfolg stolz auf sich sein.
    Aufmerksam schaute sie sich noch einmal um, ob sie jemand beachtete, ehe sie den Blick hob, die mächtige Fassade des Doms empor. S chon in früheren Jahrhunderten , seit seiner Entstehungsphase , hatte e r sie beeindruckt, , obwohl sie wie alle Vampire nicht an Gott glaubte und nicht verstand, warum die Menschen ihm huldigten. Aber gleichgültig , warum sie es taten, ihr Glaube war zu allen Zeiten Ansporn gewesen, auf dem Gebiet der Kirchenarchitektur Großartiges zu vollbringen.
    Das Domarchiv befand sich ganz in der Nähe. Vielleicht sollte sie zuerst dorthin gehen und lesen? Nein, die Nacht war lang , und sie k o nnte später die Pergamentrollen studieren, von denen Frédéric ihr erzählt hatte. In dieser oder einer anderen Nacht, die Rollen liefen ihr nicht davon.
     
    Nur ein einziges Mal hatte Frédéric seiner Schwester den verborgenen Zugang beschrieben. Da sie aber in der Regel nichts vergaß, was sie einmal gelesen oder gehört hatte, gelang es ihr mühelos, ihn zu finden und den verschlungenen unterirdischen Gängen bis zur Domausgrabungsstätte zu folgen.
    Ein Bewegungsmelder setzte die Beleuchtung in Gang , und Valentine fuhr erschrocken zusammen. Zwar gab es auch im Schloss einige Flure, in denen das Licht automatisch anging, aber dort war es ihr vertraut. Beruhigt, dass hiervon keine Gefahr ausging, wanderte ihr Blick über Steinblöcke und Gerätschaften. Die Archäologen würden hier wohl noch eine Weile mit ihren Ausgrab ung en und Forschungen beschäftigt sein.
    In Sekundenbruchteilen materialisierte Valentine sich auf die andere Seite des Ausgrabungsfeldes . Dort entdeckte sie den winzigen Durchlass, von dem ihr Bruder gesprochen hatte. Sie wand ihren Kopf hin und her, inspizierte noch ein mal die Umgebung. Alles war in Ordnung. Ihre Wahrnehmung funktionierte einwandfrei. Sie ortete niemanden, nicht einmal eine Maus oder eine Spinne. Sie war allein , und das war überaus beruhigend.
    Instinktiv tastete ihre Hand nach dem Inhalt der linken Manteltasche. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass sie ihren Mantel getragen hatte, auf einem Spaziergang durch den Schlosspark. Sie schmunzelte, als sie die Taschenlampe fühlte, die die ganze Zeit dort auf ihren Einsatz gewartet hatte.
    Als Frédéric seiner Schwester diese Taschenlampe geschenkt und sie zugleich als praktische Erfindung der Menschen gewürdigt hatte, hatte sie ihn ausgelacht. Vampire brauchen kein Licht, um im Dunkeln zu sehen , hatte sie gesagt. Er widersprach ihr nicht , sondern bat sie lediglich, das kleine Gerät auszuprobieren. Sie werde feststellen, dass sie ihre Sinne noch besser auf andere Dinge konzentrieren könne, wenn sie ihre Augen von der Dunkelheit entlastete. Nun war die Gelegenheit gekommen, dies auszuprobieren.
    Im Lichtstrahl der Taschenlampe setzte Valentine zu Fuß ihren Weg fort . Sich über der Erde von einem Ort zu einem anderen zu materialisieren war ohne allzu große Risiken. Hier unten jedoch, wo sich Mauerwerk, Felsgestein und Erde abwechselten, bestand für Valentine die Gefahr, sich ernsthaft zu verletzen. Eine Korrektur im letzten Moment war fast unmöglich , und sie durfte kein Risiko eingehen.
    Der Gang war schmal und extrem niedrig, so dass Valentine ihren Kopf leicht einzog , um sich nicht zu stoßen. Eine kribbelnde Erregung bemächtigte sich ihrer. Gleich, gleich würde sie am Ziel sein, wenn Frédérics Beschreibung stimmte, woran zu zweifeln kein
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