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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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oder nicht, also drücke ich mich in der Nähe des Busses herum und kämpfe mit meiner Schüchternheit. Ingo schießt Fotos, auch er scheint nicht recht zu wissen, was er mit sich anfangen soll.
    Nach und nach trudeln die Klogänger ein. Der Reiseleiterstößt einen schrillen Pfiff aus, und alles begibt sich zum Bus. Die Gehbehinderte hat natürlich erhebliche Schwierigkeiten, die hohen Stufen zu erklimmen, und ihre Begleiterin wirkt besorgt.
    »Kann ich helfen?«, fragt Ingo.
    »Na!« faucht ihn die Begleiterin an.
    Ingo starrt vor sich hin, dann schreit er in meine Richtung los: »Die werde ich gleich packen und aus dem Bus schmeißen!«
    »Vielleicht solltest du leiser sprechen«, raune ich ihm zu.
    »Ich bin ja leise!«, ruft er.
    Seltsamerweise scheint niemand etwas von dem Zwischenfall mitbekommen zu haben, und wir fahren weiter. Ich würde gern eine Runde schlafen, doch der Reiseleiter spricht zu uns, und das ist bestimmt wichtig und interessant. Außerdem geht von ihm etwas Lauerndes aus, etwas, was man als negative Ausstrahlung bezeichnen könnte, eine Art unterdrückte Aggression, und neben solchen Menschen kann ich mich schlecht entspannen. Aber vielleicht ist er auch nur müde oder hat andere Sorgen.
    Über Lautsprecher stellt sich der Fahrer, ein gemütlich wirkender Endvierziger mit Schnauzbart, als Rudi vor: »I werd eich in die fünf Tag herumfahren.«
    Der Reiseleiter nimmt ihm das Mikrophon weg und fragt: »Wer war noch nie in Medjugorje?«
    Ich hebe die Hand.
    »Sieben – zehn – zwölf«, sagt der Reiseleiter. »Ah, doch so viele.«
    Bald darauf sind wir in Graz. Wir fahren über eine Brücke, dann halten wir in einer Nebenstraße, wo Rudi eineWeile manövrieren muss, um den Bus in eine schmale Toreinfahrt zu bekommen. Ich frage mich, was wir hier wollen.
    Rudi und der Reiseleiter steigen kommentarlos aus und verschwinden in einem Haus. Es vergehen fünf Minuten, zehn Minuten, ich trinke meinen Kaffee und werfe die leere Dose vorne in den Abfalleimer. Ich kann Ingos Augen hinter der Sonnenbrille nicht gut erkennen, aber er wirkt apathisch. Jim der Amerikaner scheint mit jemandem in eine theologische Debatte verstrickt zu sein. Nachdem ich mich wieder hingesetzt habe, höre ich ihn sagen:
    »It’s Adam and Eve, not Adam and Steve!«
    Wir warten weitere fünf Minuten. Als die ersten Pilger zu überlegen beginnen, ob sie aussteigen dürfen, schleppen Fahrer und Reiseleiter riesige Säcke herbei, die sie in den Kofferraum heben. Sie steigen ein, als wäre nichts gewesen, und wir fahren weiter.
    Ich hüte mich, eine Frage zu stellen. Vielleicht sind es Leichen, die sie da unten entsorgen wollen? Raffiniert wäre das schon. Wer sucht schon im Pilgerbus nach zerstückelten Mordopfern?
    Am Grazer Hauptbahnhof machen wir wieder halt, um weitere Pilger abzuholen. Der Reiseleiter deutet in Richtung Toilette, weist uns jedoch mit brüchiger Greisenstimme darauf hin, dass es hier einen halben Euro kostet. Jetzt müsste ich, aber ich bin zu kaputt, um mich aus dem Sitz zu erheben. Ich achte kaum darauf, wer einsteigt, wie die Leute aussehen, was sie reden, zuweilen dringen Satzfetzen zu mir durch.
    Eine Erinnerung aus meiner Kindheit steht plötzlich vor mir, nicht klar, nicht detailreich. Ich gehe mit meiner Großmutter spazieren, und sie erzählt mir die Jesusgeschichte.So nannten wir sie: die Jesusgeschichte. Ich weiß nicht mehr, was genau der Inhalt war, ich weiß nur, dass ich sie immer wieder hören wollte, jeden Nachmittag, während wir über verschneite Feldwege gingen, ich da und dort trockene Zweige abriss oder Schneebälle formte, um sie auf ein beliebiges Ziel zu werfen. Sie erzählte mir jeden Tag diese Geschichte von einem bemerkenswerten Mann, und sie erzählte sie mit einer Wärme und Gewichtigkeit, die ich heute noch nachempfinden kann, wenn ich daran denke. Ich erinnere mich nicht, sie oft von Gott sprechen gehört zu haben, doch die Jesusgeschichte hörte ich regelmäßig, bis meine Großmutter starb. Danach las ich von Gott und Jesus nur noch in Zeitschriften und Büchern.

2. Kapitel
    Die Pilgerpässe – Botschaft der Gospa – Ingo stellt sich schlafend – Erweckungserlebnisse – Der Rosenkranz – Es gibt Würstel!
     
    In Leibnitz, etwa zwanzig Kilometer vor der slowenischen Grenze, steigen weitere Pilger zu, und damit sind wir vollständig. Der Reiseleiter nimmt sich wieder das Mikrophon.
    »Ich werde jetzt die Pilgerpässe und eine Botschaft der Gospa verteilen. Ich sag die
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