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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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Josefa? Bitte, Frau Josefa!«
    Schweigen. Der Reiseleiter steht im Gang und wirft durchdringende Blicke auf die Pilger.
    »Herr Ludwig? Ach so, Leo, Entschuldigung. Herr Leo, doch! Kommen Sie! Nein? Herr Jim? No?«
    Stille. Der Reiseleiter starrt nach hinten.
    »Gar niemand? Einer muss doch. Frau Andrea, Sie können das. Aber sicher! Ach so, Anna! Am Anfang hab ich immer die Namen noch nicht so intus.«
    Stille. Der Reiseleiter starrt nach hinten.
    »Herr Stefan? Resi? Die Resi vielleicht diesmal? Ach so, Rosi, meiner Seel.«
    Zwei, drei, vier Minuten unerträgliche Stille. Die Szene wird immer bizarrer. Seit fünf, seit sechs, seit sieben Minuten steht der Reiseleiter vor uns, der Bus wackelt, der Reiseleiter wackelt, der alte Reiseleiterkopf wackelt bekräftigend auf und ab, die dürren Hände krümmen sich zu einem flehendenBittebitte um das Mikrophon. Wieder und wieder machen diese greisen Hände bitte-bitte. Bitte-bitte, bitte-bitte, bitte-bitte. Und der Kopf nickt: Ja! Ja! Ja! Oja! Und mir fällt plötzlich auf, dass er sich nur zwei Namen problemlos gemerkt hat: Thomas und Ingo.
    Nachdem eine weitere lange Minute vergangen ist, verändert sich etwas an seiner Miene. Er fixiert jemanden, das merke ich. Er sagt nichts, schaut aber eine Person im hinteren Teil des Busses unverwandt an. Dabei geht der Kopf begütigend auf und ab, ja, oja, bitte-bitte. Es sieht so grotesk aus, dass ich nicht einmal einen Schluck Wasser nehmen kann, weil ich am Wackelgesicht des Reiseleiters hänge, dessen Blick irgendjemanden hinter mir gnadenlos durchbohrt. Wenn ich seinen Ausdruck beschreiben müsste, würde ich sagen, er will dieses Gebet trinken, er muss es haben, unbedingt, sonst verhungert oder verdurstet er auf der Stelle.
    »Ja, kommen Sie! Erwin. Sehr gut. Aber jetzt schnell!«
    An mir vorbei taumelt der Postangestellte nach vorne, in der Hand einen Rosenkranz. Er bekommt das Mikrophon und muss sich in die erste Reihe setzen. Er und der Reiseleiter wechseln ein paar Worte, der Postangestellte fragt etwas, der Reiseleiter sagt: »Wie du willst.«
    Ringsum werden Rosenkränze gezückt, und der Postmann beginnt, in das Mikrophon zu beten. Die übrigen Pilger wiederholen den Refrain. Es klingt wie ein Hexenchor. Ich drücke mich in meinen Sitz, so tief ich kann.
    Der Vorbeter betet wie ein ungebildeter Mensch, der laut und holprig aus der Zeitung vorliest. Er spricht die Worte überkorrekt aus, »Frauen« sind bei ihm »Frau-een«, »Erden« ist »Erd-een«, »Bösen« ist »Böö-seen«. Ich versuchewegzuhören, was natürlich unmöglich ist, weil das Gemurmel fortwährend an mich heranschwappt.
    Ich fühle mich exponiert und ertappt. Ich weiß nicht einmal, was diese Kette, die die Pilger in der Hand halten, darstellen soll. Ich weiß, dass sie Rosenkranz genannt wird und dass es ein gleichnamiges Gebet gibt, aber den Hintergrund kenne ich nicht. So früh wollte ich eigentlich nicht negativ auffallen. Ich kann nur hoffen, dass niemand durch den Bus marschiert und die Enthüllung meiner Glaubensferne wenigstens einstweilen den eisig blickenden Frauen neben mir vorbehalten bleibt.
    Eine Viertelstunde vergeht, eine halbe Stunde vergeht. Eine Stunde vergeht, eineinhalb Stunden vergehen. Der Bus schaukelt uns über die slowenische Autobahn, und die Leute hören nicht auf zu beten. Ich drehe mich zu Ingo um. Er wirft mir einen ratlosen Blick zu.
    Es wird bis zur slowenisch-kroatischen Grenze gebetet. Der Reiseleiter meinte es wörtlich, als er sagte, in Slowenien muss gebetet werden, er sagte: In GANZ Slowenien muss gebetet werden. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der Fahrer das Tempo dem Gebet angepasst hat, damit sich die unzähligen Wiederholungen dieser Litanei bis zur Grenze genau ausgehen. Keine schlechte Leistung, wenn man bedenkt, dass wir hier über eine Strecke von geschätzten hundertfünfzig Kilometern sprechen.
    Der Bus vor uns am slowenischen Grenzübergang fährt gerade weiter, als wir hinter ihm halten, und so sind wir gleich an der Reihe. Eigentlich würde ich, wie auch der Kappenmann und Intschu-Tschuna, gern an die frische Luft, aber der Reiseleiter wehrt uns mit einer herrischen Geste ab, setzt seinen Bauernhut auf, steigt aus und hältdem Zöllner irgendwelche Zettel unter die Nase. Wir setzen uns wieder.
    Im Bus herrscht erschöpfte Stille. Die Frauen neben mir schieben sich Brot in den Mund und trinken Wasser dazu.
    Ingo beugt sich zu mir nach vorn. »Was war denn das bitte? Dachte schon, das hört gar
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