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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn
Autoren: Thomas Glavinic
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nicht mehr auf. Ich brauche was zu essen. Ich drehe durch, wenn ich nicht bald was zu essen kriege.«
    Der Zöllner kommt in den Bus und kontrolliert unsere Pässe. Nach kaum fünf Minuten ist er fertig. Der Reiseleiter steigt ein, und wir rollen weiter zu den kroatischen Kollegen, wo sich diese Prozedur wiederholt. Auch hier gibt es keine Schwierigkeiten. Ich muss sowieso keine Angst haben, denn entgegen Ingos Verdacht habe ich nichts bei mir außer einer Schachtel Xanor und drei oder vier Amphetamintabletten.
    »Ich muss jetzt durchfragen, wer ein Würstel will. Ich schreib mit. Bei der nächsten Rast gibt sie Rudi unten in den Kessel, bei der übernächsten essen wir. Es sollen jetzt mal alle aufzeigen, die keine wollen.«
    Offenbar zeigen viele auf, denn der Reiseleiter wirkt beleidigt.
    »Wer soll dann all die Würstel essen?«
    »Ich nehme zwei Paar«, sage ich zaghaft.
    »Ich auch!«, ruft Ingo.
    »Ihr nehmts zwei, in Ordnung«, sagt der Reiseleiter, ohne uns anzusehen. »Was ist mit euch?«, fragt er die Frauen neben uns.
    »Es ist Mittwoch«, lautet die knappe Antwort.
    »Für Pilger gibt es Dispens!«, sagt der Reiseleiter und hebt den Zeigefinger.
    »Danke, wir brauchen nichts«, sagt die Mutter, und die Töchter nicken, den Blick starr geradeaus gerichtet.
    Während der Reiseleiter nach hinten wackelt, um die Würstelwünsche zu notieren, flüstere ich nach hinten: »Was ist mit dem Mittwoch?«
    »Keine Ahnung«, flüstert Ingo zurück. »Ich habe aufgepasst, sie nehmen nichts als Wasser und Brot zu sich.«
    Ich bemühe mich, wieder eine Weile geradeaus zu schauen, denn mein Magen fühlt sich ein wenig flau an. Das wird nicht besser, als mir der Reiseleiter die Sicht versperrt. Er lehnt sich vor mir gegen den Sitz und hebt zur nächsten Durchsage an.
    »Ich habe hier in meinem Hut die Namen von uns allen. Es ist ein guter Brauch, dass jeder von uns einen Namen zieht und im Stillen für diese Person jeden Tag ein Vaterunser spricht, solange die Pilgerfahrt dauert. Wollt ihr das?«           
    »Jööööh«, sagt die alte Bäuerin.
    Die vier Frauen neben mir nicken eifrig. »Ja! Eine gute Idee!«
    Auch im hinteren Teil des Busses macht sich Zustimmung breit.
    »Gut, dann komme ich jetzt zu euch, und jeder zieht.«
    Ich starre in einen Hut voller zusammengefalteter Zettel. Verschiedene Gedanken jagen durch meinen Kopf. Ich weiß nicht einmal, wie ein Vaterunser geht. Abgesehen davon werde ich ganz bestimmt sowieso nicht beten. Aber muss ich das jetzt gleich sagen, um zu gewährleisten, dass keiner der Pilger auf seine geistige Unterstützung verzichten muss? Ich will ja niemanden vor den Kopf stoßen, ich will nur dabei sein und schauen und mir selbst ein paarFragen stellen. Ich schaue in den Bauernhut, und mir fällt nichts anderes ein, als zuzugreifen.
    »Nimmst du einen Zettel für Ingo?«, fragt der Reiseleiter.
    Ich drehe mich um. Um der Ziehung zu entgehen, hat der sich Lump blitzartig schlafend gestellt. Während ich seinen Zettel aus dem Hut fische, muss ich ein schadenfrohes Grinsen unterdrücken.
    Der Reiseleiter wandert nach hinten, und ich lese die beiden Namen. Für mich habe ich den Liliputaner gezogen, für Ingo die Fundamentalistenmutter neben mir. Wenn jemand hier das Ausfallen eines Gebets verkraftet, dann sie, denn sie wirkt sehr gefestigt. Um den Liliputaner mache ich mir da etwas mehr Sorgen, und so vertausche ich die beiden Zettel. Nun habe ich die Fundamentalistenmutter, der Liliputaner wird Ingos Schützling.
    »Wolltest du dich nicht auf das Ganze hier einlassen?«, flüstere ich nach hinten.
    »Was?«
    »Du hast gesagt, du wirst offen auf alles zugehen, was du auf der Pilgerreise erlebst. Hier, nimm deinen Zettel!«
    Er zeigt mir den Mittelfinger und wirft sich seine Jacke über den Kopf.
    Der Reiseleiter wackelt wieder herbei.
    »Ich zeige euch jetzt das Video von der Radpilgerfahrt nach Medjugorje. Seit Jahren unternimmt mein Neffe diese Tour mit zehn bis fünfzehn Pilgern, da sind sie eine Woche unterwegs, und das ist immer für alle ein besonderes Erlebnis. Rudi, die Kassette starten.«
    Auf dem kleinen Bildschirm über der Windschutzscheibe erscheint kein Film, wie ich es erwartet hätte, sonderneine Fotoserie. Fröhliche Radmenschen auf der Landstraße, auf Parkplätzen, vor Kirchen, beim Essen, in karger Landschaft und vor Pensionen mit Blumenkästen an den Fenstern. Das Ganze ist ungelenk zusammengestellt, und die Bilder haben nicht gerade eine famose Qualität,
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