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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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schließen vermochte. Es ist illusorisch zu glauben, man könne sich das Land seiner Geburt aussuchen. Aurélie hatte keinerlei Verbindungen zu diesem Land, es sei denn das Blut, das ihr Großvater André Degorce hier hatte fließen lassen, wäre eine solche, oder die unauffindbaren Relikte eines alten, Jahrhunderte zuvor verstorbenen Bischofs. Sie verlegte ihre Abreise nach vorn und packte ihre Koffer, ohne Massinissa etwas zu sagen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Wie soll man jemanden verlassen, dem man nichts vorzuwerfen hat und den man lieber nicht gezwungen wäre zu verlassen? Was hätten sie anderes tun können, als Albernheiten auszutauschen? Und sie befürchtete, wenn sie ihn wiedersähe, würde ihre Lust, länger bei ihm zu sein, sie noch dazu bringen, ihre Abreise unnötig aufzuschieben. Sie hinterließ ihm keinen Brief. Sie wollte ihm nichts anderes hinterlassen als ihre Abwesenheit, denn mit ihrer Abwesenheit würde sie Massinissa auf ewig heimsuchen, wie der Kuss einer verschwundenen Prinzessin noch immer den numidischen König heimsuchte, dessen Namen er trug. Sie rief bei ihrer Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie am Abend in Paris sei. Am Flughafen erlaubte sie sich nicht die geringste Feierlichkeit bei der Erledigung der Abreiseformalitäten. Sie sah durch die Seitenfenster auf die Balearen, und als sie die provenzalische Küste erblickte, trocknete sie sich ihre geröteten Augen. Claudie hatte ihr eine Mahlzeit zubereitet.
    »Geht es dir gut, Aurélie? Du siehst müde aus.«
    Sie antwortete, dass alles gut sei, küsste ihre Mutter zur Nacht und ging in ihr Kinderzimmer schlafen. Um vier Uhr früh riss sie das Klingeln ihres Handys aus einem Traum, in welchem ein merkwürdiger Wind über ihren Körper blies und sie langsam unter Sand begrub, und sie wusste, dass sie sich Schutz suchen sollte, aber sie wollte sich der warmen Liebkosung dieses Windes nicht entziehen, eine Liebkosung so zart, dass sie noch beim Entgegennehmen des Anrufes an sie dachte. Sie vernahm eine keuchende Atmung, Schluchzer, Schluckauf, und dann die Stimme von Matthieu.
    »Aurélie! Aurélie!«
    Er wiederholte ihren Namen und konnte nicht aufhören zu weinen.

Da waren keine barbarischen Horden. Keine berittenen Vandalen oder Westgoten. Libero wollte ganz einfach die Bar nicht länger behalten. Er würde das Saisonende abwarten oder die zweite Herbsthälfte, er würde für die Mädchen eine Arbeit finden, etwas Gutes, und er würde seinem Bruder Sauveur und Virgile Ordioni in der Schäferei helfen oder aber sein Studium wieder aufnehmen, er wusste es nicht, aber er wollte die Bar nicht länger behalten. Er mochte den, zu dem er geworden war, nicht. Matthieu hatte das Gefühl, verraten worden zu sein. Und er, was solle aus ihm werden? Libero zuckte mit den Schultern.
    »Siehst du dich hier die Jahre verbringen? Die Mädels, die vorbeiziehen, immer die gleichen armen Mädels. Die kleinen Arschlöcher vom Schlage Colonna. Die Säufer. Die Fertigen. Das ist ein Scheißjob. Ein Job, wo du zum Depp wirst. Du kannst von der menschlichen Dummheit nicht leben, ich dachte, es sei möglich, aber es geht nicht, du wirst dabei noch blöder als der Durchschnitt. Ehrlich, Matthieu, siehst du dich hier? In fünf Jahren? In zehn?«
    Aber Matthieu sah sich dort sehr wohl. Er war sogar vollkommen unfähig, sich eine andere Zukunft auszumalen. Die Saison sei schwierig gewesen, das stimme, aber eben, das Schlimmste liege hinter ihnen. Sie könnten nicht einfach so aufgeben, das sei immerhin doch gut, was sie da fürs Dorf geleistet hätten, alles sei so tot gewesen vorher, und jetzt hätten sie Leben in die Bude gebracht, die Leute kämen, seien glücklich, man könne das nicht alles einfach so hinschmeißen, nur weil eine Saison etwas schwieriger gewesen sei.
    »Die Leute, von denen du sprichst, das sind Knallköpfe, die herkommen und ihren ganzen Zaster ausgeben, nur um Mädels zu ficken, die sie niemals ficken werden, und die schlichtweg zu dumm sind, um direkt zu irgendwelchen Nutten zu gehen. Ich frage mich, ob ich es nicht lieber habe, wenn’s tot ist. Und außerdem bin ich müde. Und ich will mich im Spiegel betrachten können.«
    Was solle bloß dieser Schwachsinn, sich nicht im Spiegel betrachten zu können? Seien sie denn verantwortlich für das Elend der Welt? Sie seien keine Banditen, auch keine Zuhälter, und selbst wenn sie die Bar schlössen, es würden die Mädels doch haufenweise weiterhin auf den Strich gehen. Was könnten
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