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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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klopfte, der ihm zu Hilfe eilte: »Ei! Lass gut sein! Er ist nett.«
    Pierre-Emmanuel war nicht nett, Libero wusste es genau, aber er wollte nicht die Grausamkeit besitzen, Virgile die Augen über die wahre Natur seines Folterknechts zu öffnen, er ging zurück hinter den Tresen, zischte zwischen den Zähnen: »Dieser kleine Wichser«, trug das bittere Kreuz seines Grolls bis zur Sperrstunde. Er begleitete Matthieu zur Stadt hinunter, der den Moment so weit wie möglich hinauszögerte, da er zurück in sein Kinderzimmer musste, in das ihn Izaskuns Flatterhaftigkeit ins Exil verbannt hatte, sie drehten eine Runde durch die Clubs, schliefen manchmal mit Touristinnen am Strand oder auf Parkplätzen und kehrten bei Morgengrauen wieder hoch ins Dorf, besoffen wie die Schweine, die Stirn an die Windschutzscheibe ihres Wagens geheftet, der am Abgrund entlangschlidderte. Gegen Ende August schlug ihnen Vincent Leandri vor, im Restaurant zu Abend zu essen, und sie vertrauten Gratas die Bar an. Die Touristen verließen bereits die Stadt, eine angenehme Brise zog über den Hafen, das Leben schien sanft zu sein und sie genossen die Erholung, einen Abend weit weg von der Bar zu verbringen. Es kümmerte sie nicht, was dort geschehen mochte, und wenn Gratas und Pierre-Emmanuel entschieden haben sollten, eine Orgie zu veranstalten auf dem Billardtisch, so sollten sie es doch die ganze Nacht über treiben und sie hätten ihren Segen. Sie aßen Languste und tranken Weißwein und Vincent schlug ihnen vor, ein Glas im Etablissement jenes Freundes zu trinken, der ihnen Annie vorgestellt hatte. Das Dorf zu verlassen, um in einer Nuttenbar zu landen, schien nicht grade eine außerordentlich triftige Idee zu sein, aber sie wollten Vincent eine Freude bereiten. Der Freund empfing sie wieder mit offenen Armen und bot ihnen sofort eine Flasche Champagner an. In einer Ecke des Raums warteten unter scharlachroten Lampen die Mädchen, miteinander im Gespräch, auf die Kunden. Ein fetter Typ trat ein und ließ sich am anderen Ende des Tresens nieder, wohin ihm ein Mädchen folgte. Fetzen ihrer Unterhaltung erreichten Matthieu, der fette Typ versuchte sich besonders aufzublasen, indem er Albernheiten von sich gab und miese Witze erzählte, auf die das Mädchen mit einem derart gekünstelten Lächeln reagierte, dass es beinahe unhöflich wirkte, und Matthieu erkannte Ryms Stimme wieder. Das war tatsächlich sie, im schwarzen Kleid und in hochhackigen Schuhen, von Schminke verzerrt. Matthieu lenkte Liberos Aufmerksamkeit auf sie und schon wollten sich die beiden von ihren Hockern erheben, um sie zu begrüßen, da wehrte sie dies ab, indem sie einen Augenblick lang ihre starren Augen auf sie richtete, sie dann langsam abwandte und wieder zu lachen begann, als wäre nichts geschehen. Sie rührten sich nicht. Der Champagner wurde in den Schalen warm. Der fette Typ bestellte eine Flasche und zog ab in eine Einzelbox. Rym bereitete das Tablett vor, ein Kübel mit Eiswürfeln, zwei Gläser, und folgte ihm. Sie blickte Matthieu und Libero ein letztes Mal an, als sie die schweren roten Vorhänge vor der Box zusammenzog.
    »Lasst uns gehen.«
    Im Auto versuchte Vincent, sich beruhigend zu geben, so sei das Leben, da sei nicht viel zu machen und noch weniger zu sagen, es komme selten vor, dass diese Mädchen am englischen Hof landen würden, zwar nicht unmöglich, doch wohl sehr selten, man könne dies beklagen, aber so sei das nun mal, niemand sei daran schuld. Das Leben. Libero presste die Zähne zusammen.
    »So werden sie alle enden. Alle.«
    Er wandte sich an Matthieu.
    »Und wir haben das alles fabriziert, wir.«
    Matthieu befürchtete, dass er richtig liegen mochte. Der Demiurg ist nicht Gott. Weshalb auch niemand kommt, ihn freizusprechen von den Sünden der Welt.

Es war ihre Zeit nicht mehr: Er konnte nicht mehr länger nachts zu ihr gehen, indem er leise über die leeren Flure des Hotel d’État zog; sie wartete nicht mehr länger mit klopfendem Herzen auf sein Kommen. Die Momente, die sie nun miteinander teilten, waren schwer vom Gewicht der auf sie gerichteten Blicke. Sie gingen von Zeit zu Zeit nach Tipasa für einen Tag, um sich aus Algier zu entfernen. Sie hielten in Bou-Haroun, um zu essen, die Sonne ließ die malvenfarbigen Eingeweide der Fische auf den Steinen des Hafenufers kochen und schon die geringste Brise schlug in Richtung der Terrassen der Restaurants die Ausdünstungen von Verwesung, aber dennoch aßen sie und füllten ihre Gläser
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