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Unter Menschen

Unter Menschen

Titel: Unter Menschen
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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enthusiastisch wie sein junger Beifahrer. Es war ihm absolut klar, was er dabei riskierte. Seine Tochter hatte Sam blauäugig vertraut und war einfach zu ihm ins Wasser gehüpft. Mit viel Glück war das gut ausgegangen. Sam hatte Bill beinahe umgebracht und er hatte den Mörder seines Vaters ertränkt. Er war fähig, zu töten und George wusste das. Er dachte an Sams Geständnis, als er schwer verletzt in Jerrys Praxis gelegen hatte.
    Manchmal, wenn ich schwimme, dann sehe ich Taucher … oder Schwimmer. Und dann … dann will ich sie packen und unter Wasser ziehen …
    Sam war ein wildes Geschöpf der Meere und unberechenbar. Ohne die richtige Erziehung konnte er zu einer Gefahr werden – vor allem, sobald er ausgewachsen war. Sein niedliches Aussehen und seine zurückhaltende Art an Land täuschten, vor allem Mädchen gegenüber, darüber hinweg. Sie fanden ihn goldig und schüchtern, ein harmloser Peter Pan des Meeres. George hingegen ließ sich nicht von optischen Attributen beeindrucken. Heute stand ein großer Wesenstest an, von dem Sam nichts wusste. George musste herausfinden, worauf er sich einließ, wenn er einen Fischjungen in seinem Haus beherbergte.
    Sam entfernte den Anschnallgurt und stieg aus dem Wagen. George nahm eine Sporttasche vom Rücksitz und stieg ebenfalls aus. Als er sich umdrehte, stand Sam schon vor ihm. George musste immer an den kleinen Prinz denken, wenn Sam mit seinem blonden Haarschopf zu ihm aufsah.
    „Ich habe ein Ruderboot. Damit fahren wir raus und schwimmen ein wenig“, sagte George und Sam atmete hörbar durch. Gemeinsam gingen sie zum Bootskai hinunter.
    „Kann ich sofort ins Wasser gehen?“, fragte Sam.
    „Nein, das wäre zu auffällig. Lass uns erst raus fahren. Dann kannst du dich in Ruhe verwandeln.“ George legte seine Tasche in das Boot.
    Das kleine Boot schaukelte auf den sanften Wellen. Sam war schon seit gut fünfundvierzig Minuten im Wasser. George sah ab und zu von seinem Buch hoch, ob Sam wieder auftauchte. Die Wandlung seiner Beine in einen Fischkörper dauerte seine Zeit und kostete Sam viel Kraft. Sam würde sich unter Wasser ausruhen und wenn er sich erholt hatte, Bescheid geben. George blätterte eine Seite weiter, als er ein Plätschern hörte. Dann legten sich zwei Hände auf den Bootsrand und Sam schaute zu ihm ins Boot.
    „Alles klar?“, fragte George ihn. Sam nickte.
    „Kommst du jetzt zu mir ins Wasser?“, fragte er.
    „Ja, gleich. Erst möchte ich etwas mit dir besprechen. Weißt du, wie lange Menschen unter Wasser ohne Luft überleben können?“
    „Ja, weiß ich“, sagte Sam. „Nur ganz kurz.“
    „Es ist kein Spiel, Menschen unter Wasser zu ziehen. Du kannst sie dabei sehr leicht ertränken. Sie können sterben, bevor du es merkst“, sagte George.
    „Okay“, sagte Sam.
    George nahm seine Taucherbrille und den Schnorchel.
    „Ich möchte, dass du ein Gefühl dafür bekommst. Ich werde jetzt zu dir ins Wasser steigen und dir erlauben, mich unter Wasser zu ziehen. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, bringst du mich wieder nach oben. Das ist eine Übung für dich. Verstehst du das?“
    „Ja“, sagte Sam und George hörte die Aufregung in seiner Stimme. Sam musste lernen, seine Instinkte zu beherrschen. Wenn die Öffentlichkeit von ihm erfuhr und Sam dann auch noch mit überschäumendem Herzen erwähnte, dass er den Taucher ertränkt hatte, konnte er wegen Mordes angeklagt werden.
    George sprang zu Sam ins Wasser. Er kam wieder an die Oberfläche und Sam umkreiste ihn.
    Das Wasser war Sams Element, das konnte man deutlich sehen. Er fühlte sich wohl und sicher. Die ganze zurückhaltende Unterwürfigkeit, die er an Land zur Schau stellte, fiel hier von ihm ab. George fragte sich, ob Jerry nicht recht hatte. Sam wollte an Land leben, weil er sich im Wasser einsam fühlte, aber das Meer war sein Zuhause. Nicht ein Einfamilienhaus am Stadtrand mit Vorgarten und neugierigen Nachbarn.
    Sam hob die blausilberne Schwanzflosse hoch und ließ sie auf die Wasseroberfläche klatschen.
    Kleine Tropfen regneten auf George herab.
    „Tauchen wir denn jetzt?“, fragte er. George nickte.
    „Aber nicht zu tief. Menschen dürfen auch nicht sehr schnell tief hinunter tauchen. Wusstest du das?“
    „Nein. Wie tief darfst du denn?“
    „Nicht besonders tief“, sagte George. Er wusste, dass Sam Angaben in Metern noch nicht verstand. „Du solltest mit Menschen immer dicht an der Oberfläche bleiben, wenn du es nicht genau weißt. Alles klar? Dann wollen wir
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