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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio
Autoren: Ana Veloso
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Traurigkeit. Er wurde plötzlich von Zweifeln geplagt, die er bisher nicht gekannt hatte. Was, wenn seine arme Mutter mit dem üblen Spiel gar nichts zu schaffen gehabt hätte? Caro und er waren sich einig, dass die eigentlichen Bösewichter wohl Vitória da Silva und Roberto Carvalho gewesen sein dürften. Dona Madeleine, so sinnierte António an ihrem Grab, war immer eine herzensgute Frau gewesen. Wie hatte er so grausam sein können, ihr in den letzten Monaten und Wochen ihres Lebens die Enkelkinder vorzuenthalten?
    Er verscheuchte die unschönen Gedanken, die sich in seinem Kopf breitzumachen drohten, indem er ihre Weiterreise plante. Nach São Paulo wollten sie fliegen, dann weiter nach Paraguay und von dort nach Buenos Aires. Dort würden sie den mittlerweile schon bekannten schriftstellernden Piloten Saint-Exupéry treffen, der als Direktor der Aéroposta Argentina die Poststrecken in Argentinien ausbauen sollte. Auch in Patagonien wollte man nicht mehr monatelang auf einen Brief warten. Die allseits beschworene Zukunft hatte längst auch entlegenste Landstriche erreicht.
     
    Im Hause von Vitória und León hatte sich ebenso wenig geändert wie bei Felipe und Neusa. In guten wie in schlechten Zeiten stritten sich die Ehepartner, missverstanden sich mutwillig und verletzten einander. Beide Paare hatten ihre Töchter verloren, ob mit oder ohne ihr Verschulden, doch ihren Töchtern ging es glänzend. Bel hatte ihr Ziel fast erreicht: Sie war eine gut bezahlte Filmschauspielerin geworden, die sogar auf der Straße um ein Autogramm gebeten wurde. Der ganz große Ruhm hatte sich bisher noch nicht eingestellt, ebenso wenig wie Nachwuchs. Augusto dagegen hatte es weiter gebracht, als er je zu träumen gewagt hätte. Er war als Künstleragent ziemlich erfolgreich, auch wenn er noch nicht viele Künstler unter Vertrag hatte. Wenn es so weiterging, wäre er derjenige, der Bel in ein paar Jahren das Haus mit Pool kaufen würde. Dann allerdings wollte er es auch mit Kindern bevölkern. Aber er und Bel waren gerade zwanzig Jahre alt, sie hatten noch reichlich Zeit, sich auszutoben, und, wer weiß?, vielleicht Hollywood zu erobern. Das nämlich war Bels nächster Plan, und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war Augusto machtlos dagegen.
     
    Gar nicht weit von Hollywood entfernt, nämlich in San Francisco, machte ein junger brasilianischer Ingenieur seinen Weg, still, tüchtig und bescheiden wie immer, aber zielstrebig und mit wachsendem Selbstbewusstsein. Von Henrique hörten Caro und António durch Zufall, weil ein gemeinsamer früherer Studienkollege, inzwischen der Verlobte von Antónios Schwester, zu der Beerdigung von Dona Madeleine gekommen war. Henrique habe, so erfuhren sie, eine Amerikanerin geheiratet und sich für immer in Kalifornien niedergelassen. Dank seines Schwiegervaters konnte Henrique einen Posten in der Planungskommission für die Golden Gate Bridge ergattern, die allerdings erst Jahre später gebaut werden sollte, ein ähnlich unbefriedigendes Los, wie es ihn schon beim
Cristo Redentor
ereilt hatte, der übrigens erst 1931 eingeweiht wurde.
     
    Wieder und wieder hatten Finanzierungsschwierigkeiten den Bau der Christusstatue verzögert. 1929 , als Caro und ihre Familie nach São Paulo flogen, sahen sie unter dem riesigen Gerüst noch immer nicht mehr als die Stahlkonstruktion in Kreuzform, die einen Christus mit ausgebreiteten Armen nur mit viel Phantasie erahnen ließ. Kopf und Hände der kolossalen Statue waren noch nicht befestigt.
    Es herrschte schönstes Wetter – andernfalls wären sie nicht geflogen, denn riskante Flüge vermieden sie, wenn die Kinder dabei waren. Caro saß am Steuer und machte einen kleinen Umweg.
    »Wo willst du denn hin?«, fragte António, der die Route mitverfolgte und die markanten Zeichen auf der Erde, die sie hätten überfliegen müssen – einen Fluss, einen Berg oder eine Stadt – nicht mehr erkennen konnte.
    »Ich will Boavista einen Gruß schicken.«
    Als sie über die Fazenda flogen, die einstige Kaffeeplantage, in der Caro so einsam gewesen war, ließ sie die Maschine auf eine Höhe von zweihundert Metern sinken und beschrieb eine Acht über dem Herrenhaus. »Sieh mal, Alfredinho, da bist du geboren«, rief sie ihrem Sohn zu, der hinten saß und kaum ein Wort verstand; in dem Flugzeug war es sehr laut. Er lächelte ihr zu, wie er es immer tat, aber eigentlich spielte es keine Rolle, was sie gesagt hatte, solange sie überhaupt mit ihm sprach. Der
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