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Unter allen Beeten ist Ruh

Unter allen Beeten ist Ruh

Titel: Unter allen Beeten ist Ruh
Autoren: Auerbach , Keller,
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einem geschenkten Gaul sah man nicht ins Maul. Die kleine Einzimmerbleibe zwischen der Hauswartswohnung ihrer Eltern und der Junggesellenbude ihres Bruders war offiziell als Hausmeisterbüro deklariert und kostete sie keinen Cent Miete, was exakt zu ihrem derzeitigen Budget passte. Sie scherzte oft mit ihrer Freundin Karin, dass sie sich ihren Beruf als Übersetzerin eigentlich nur mit freier Kost und Logis leisten konnte.
    Unten im Hof versammelten sich bereits die Hausbewohner zum traditionellen gemeinsamen Picknick.
    Der mürrische Ede Glassbrenner aus dem ersten Stock strahlte ausnahmsweise über das ganze Gesicht und reichte Mira Kasulke mit pompöser Geste eine Tube Löwensenf, während Miras Zwillingsschwester Käthe eine große Schüssel Kartoffelsalat auf den langen Tapetentisch stellte, der bei Hoffesten als improvisiertes Buffet diente. Die drei waren die Urgesteine der Hausgemeinschaft, seit über fünfzig Jahren wohnten sie in der Transvaal 55. Sven und Lisa, Karins Kinder, trugen gemeinsam einen Korb in den Hof, der mit Fladenbroten und Baguette gefüllt war. Lisa schaute nach oben, entdeckte ihre Patentante am Fenster und winkte stürmisch. Pippa lächelte zurück. Lisa war zwar erst dreizehn, aber man sah bereits, dass sie eine Schönheit werden würde und das auch wusste. Kein Zweifel: Die Schlange männlicher Bewunderer würde sich von der Tür ihrer Wohnung im zweiten Stock durch das ganze Treppenhaus ziehen und bis auf die Straße reichen.
    Pippa gegenüber öffnete sich ein Fenster. Bekir Abakay rief in den Hof: »Wir bringen Baklava! Brauchen Platz für viermal Blech!« Die Ankündigung löste allgemeinen Jubel aus, denn die köstliche türkische Süßspeise seiner Mutter Olcay, der Matriarchin der Sippe, war auf den regelmäßigen Picknicks der Hausgemeinschaft der Renner.
    Pippa spürte, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Der Haubentaucher drohte, in Richtung Horizont davonzuschwimmen.
    Die Tür zum Vorderhaus ging auf, und eine kleine Prozession betrat den Innenhof. Als Erste erschien Effie, die Platte mit ihren Buletten wie eine Monstranz in den Händen, gefolgt von Bertie, beladen mit Servietten und Besteck. Dann folgten die vier Schauspielschülerinnen aus der »Grazien- WG «, zweiter Stock rechts, und als Schlusslicht Freddy, Mengen von Getränken balancierend. Gleichzeitig redete er eifrig auf Miriam ein, die fürsorglich mehrere Flaschen Wein aus seinen Armen rettete.
    Isabella ist also abgemeldet, dachte Pippa amüsiert. Jetzt ist Miriam das Ziel seiner romantischen Träume. Dann kommt vermutlich Asta. Danach vielleicht Annett. Und dann kann er wieder mit Isabella anfangen. Der Ärmste, wann würde er endlich begreifen, dass sich ohne ernsthaften Einsatz keiner seiner romantischen Träume jemals erfüllen würde?
    Pippa sah neidisch auf die muntere Gesellschaft hinunter. Gleich würde unter dem Vorsitz ihrer Mutter das fröhliche Gelage beginnen.
    Die Hausgemeinschaft traf sich einmal im Monat und rekapitulierte die vergangenen vier Wochen, diskutierte eventuelle Probleme und äußerte Wünsche an die Runde. Im Sommer wurden bei Regen die Markisen ausgefahren und ein paar Sonnenschirme aufgespannt. Im Winter traf man sich entweder bei Bolles in der Hausmeisterwohnung oder bei den exzentrischen Kasulke-Zwillingen, die, obwohl längst im rentenfähigen Alter, noch immer ihr großes Schneideratelier betrieben. Je älter sie wurden, desto unkonventioneller gerieten ihre Entwürfe; sehr zum Entzücken Pippas, die ihre eigenen Ideen in den extravaganten Kreationen verwirklicht sah und diese mit Begeisterung trug.
    Effie Bolle hatte durch einen Roman aus der Jahrhundertwende die Kiez-Bräuche des Kaiserreiches kennengelernt und ihren ganzen Ehrgeiz als Hauswartin dreingesetzt, das traditionelle Gemeinschaftsessen einer Hausgemeinschaft wieder einzuführen. Diese Treffen waren ihr Ersatz für die abendlichen Besuche im Dorfpub, die sie aus ihrer englischen Heimat kannte und die dort für viele das soziale Ereignis der Woche bildeten.
    Effies Bemühungen um eine gute Hausgemeinschaft waren von außerordentlichem Erfolg gekrönt. Inzwischen galt eine Wohnung in der Transvaal 55 im gesamten Afrikanischen Viertel von Berlin als besonders erstrebenswert. Während andere Hausbesitzer im Wedding sich plagen mussten, um an solvente Mieter zu kommen, verwaltete Bertie Bolle eine Liste von Anfragen, deren Reihenfolge er nach eigenem Gusto gestaltete. Vor einem knappen Jahr hatte er die Bewerbung
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