Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter allen Beeten ist Ruh

Unter allen Beeten ist Ruh

Titel: Unter allen Beeten ist Ruh
Autoren: Auerbach , Keller,
Vom Netzwerk:
Sand.

Kapitel 1
    F reddy! Pippa! Die ›britischen Buletten‹ sind fertig!«
    Pippa Bolle fuhr erschrocken zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters direkt hinter sich hörte, und stieß dabei ihr Wasserglas um. Der Inhalt ergoss sich über das wuchtige englisch-deutsche Wörterbuch, das aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag. Mit Hilfe der weiten Ärmel ihrer Strickjacke versuchte sie hektisch, das Malheur zu beseitigen und drückte dabei das Wasser nur noch tiefer in die Seiten. Ketchup, Gemüsebrühe, Butter, Tee, Tränen … und jetzt San Pellegrino: Das Nachschlagewerk hatte im Laufe seiner Einsätze vieles aufgesogen. Jetzt hatte es Geburtswehen – Gefrierbrand erwischt. Es wurde wirklich allmählich Zeit, dass sie lernte, mit Online-Lexika zu arbeiten.
    Pippa warf einen resignierten Blick auf ihren Schreibtisch. Dort lag ihre aktuelle Arbeit mit dem beeindruckenden Titel: »Die Veränderung des Gefieders beim Podiceps cristatus oder Gemeinen Haubentaucher unter umweltbezogenen Stressbedingungen der verschiedenen Brutzonen und Jahreszeiten«. Ein Übersetzungsauftrag der Freien Universität Berlin, Kategorie Doppel-L: langweilig, aber lukrativ.
    »Kommst du? Und bring Freddy mit«, schob Bertold Bolle hinterher, als seine Tochter sich nicht rührte.
    »Ich arbeite gerade«, sagte Pippa vorwurfsvoll, wenn auch wenig überzeugend.
    »Dann machst du eben später weiter«, schlug ihr Vater vor und verschwand wieder in der elterlichen Wohnung.
    Dann machst du eben später weiter – wenn das so einfach wäre! Wenn sie an einer Übersetzung arbeitete, benötigte sie absolute Konzentration. Eine Unterbrechung konnte verheerende Folgen haben, weil sie Gefahr lief, den Faden – und vor allem das Interesse – an den trockenen Stoffen zu verlieren, die ihr die Berliner Hochschulen zukommen ließen. Pippa seufzte. Diese Aufträge brachten Geld, hatten aber mit den erträumten literarischen Übersetzungen ebenso viel zu tun wie ein Haubentaucher mit einem Hammerhai.
    In diesem Moment wurde von Freddys Seite die zweite Verbindungstür aufgerissen. Eine Einladung zum Essen, und schon erwachte ihr kleiner Bruder aus seinem Phlegma. Freddy stolperte über seine eigenen Füße, als er durch Pippas Wohn-Schlaf-Arbeitszimmer eilte.
    Pippa schlenderte hinter ihm her, stellte sich an den gusseisernen Aga-Herd, den ihre Mutter aus England importiert hatte, und sah zu, wie diese die letzte Fuhre Buletten à la Britannia aus dem brutzelnden Fett holte.
    »Danke, dass du heute allein gekocht hast, Mum«, sagte Pippa.
    »You’re welcome, Dear«, antwortete Effie in ihrer Muttersprache und schichtete die Frikadellen kunstvoll auf die Platte mit der Bulettenpyramide. »Hauptsache, du bist mit diesem schrecklichen Text ein Stück weitergekommen. Bertie, denk an die Servietten. Freddy, an der Tür steht die Kühlbox mit den Getränken. Pippa, du nimmst die Schale mit dem Obstsalat.«
    »Mum, sei bitte nicht böse, aber …« Pippa sah ihre Mutter bittend an.
    »Du musst doch auch mal Pause machen, Love, kein Mensch kann ohne Unterbrechung ordentlich arbeiten«, befand Effie kategorisch.
    Pippa schüttelte den Kopf. »Ich bin gerade mittendrin. Wenn ich jetzt aussetze, kriege ich heute nichts mehr fertig. Ich nehme mir zwei Buletten mit an den Schreibtisch. Grüß alle von mir, ja?«
    Obwohl ihre Mutter unwillig die Stirn runzelte, schnappte sich Pippa zwei Bratlinge und ging zurück in ihr Arbeitszimmer.
    Sie öffnete das Fenster, das auf den Hinterhof der Transvaalstraße 55 hinausging, und sah hinunter.
    Heinrich Zille hätte dieses Bild nicht schöner malen können: Ein vollständiges Karree aus Vorder- und Hinterhaus, verbunden durch zwei Seitenflügel, und ein vom Berliner Straßenlärm gänzlich unberührter, liebevoll gepflegter Innenhof bildeten einen in sich geschlossenen Kosmos, der von lebhaften Familien nebst Trabanten bewohnt wurde. Lautstark bewohnt: Das harmonische Miteinander der Hausgemeinschaft führte oft zu Unterhaltungen von Fenster zu Fenster – besonders gerne auch quer über den Hof.
    Leider.
    Pippa holte tief Luft. Ein bisschen weniger Idylle und ein wenig mehr Privatsphäre wären für ihre Arbeit in jeder Hinsicht besser. Sie hatte in den letzten sieben Jahren in Italien gelebt und bemühte sich jetzt intensiv, alte und neue Auftraggeber zu rekrutieren, um in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Das ging nur mit fehlerfreier, exzellenter Arbeit, und die gab es bei Pippa nur in Ruhe und Ungestörtheit.
    Aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher