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Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Titel: Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
Autoren: Bente Varlemann
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resultierende Vitamin-D-Überproduktion glücklich und laufen laut lachend aus ihren Wohnungen.
    Die Welt ist schön, und alles ist gut. Ich nehme eine Zigarette aus meiner Tasche, lächle sie einmal an, nehme einen tiefen Zug und weiß: Ein kleines Lächeln kann die Welt ein bisschen besser machen, auch wenn sie dabei in Flammen steht.

Irgendetwas ist zwischen uns
    Zwischen den Kilometern und Landschaften, die uns trennen.
    Da ist etwas, das uns hält.
    Ich sitze am See, es ist fast Sommer. In einer Stadt wie dieser gibt es nur zwei Jahreszeiten: Winter und Fast-Sommer. In einem Moment wie diesem gibt es nur zwei Gefühle, so etwas wie Freiheit und so etwas wie Entspannung. Ich sitze am See im Fast-Sommer und nehme das Telefonat an. «Oma ist gestorben», sagt meine Schwester.
    Meine zwei Gefühle lösen sich auf, und zurück bleibt eine leere Stelle. Ich fühle das nicht. Ich spüre nur die Sonne auf meiner blassen Haut und die Ameisen, die mir auf die Beine pinkeln. Auf meinen Unterschenkeln ist jetzt der Schmerz, der eigentlich überall sein sollte. Ich fühle keine Trauer, reagiere so, als hätte mir jemand erzählt, wie sein Tag heute verlaufen ist. Die Nachricht hat den Gehalt von etwas vollkommen Banalem. Genau deswegen bleibe ich noch eine halbe Stunde, weine nicht, aber rauche Zigaretten, obwohl es dafür eigentlich zu warm ist.
    Auf dem Weg zur S-Bahn verlaufe ich mich zweimal. Nehme meine Umgebung plötzlich nur noch als farbige Flächen ohne Tiefe wahr und fühle mich wie in Zellophan verpackt. Ich bin ganz bei mir selbst und eigentlich noch nicht mal das. Ich bin außen und innen gar nicht da. Die Leere breitet sich überall aus und frisst an meinen Gedanken. Oma ist tot.
    In der Bahn stehe ich und zittere. Nachdem ich zu Hause angekommen bin, setze mich an den Schreibtisch, nehme das Handy aus der Tasche und wähle die Nummer meiner Mutter. «Wie geht es dir?», fragt sie mich, und jetzt füllt sich die Leere mit Tränen und Schmerz. Wir reden eine ganze Weile. Ich werde zur Beerdigung fahren. Alle kommen zur Beerdigung.
    Es ist die dritte Beerdigung in meinem Leben. Die erste erlebte ich mit fünfzehn, als der Vater einer Freundin Selbstmord begangen hatte. Die zweite war die meines Hundes Paul, den meine Familie und ich im strömenden Regen im Garten beisetzten. Genau genommen habe ich also keinerlei Erfahrung mit Beerdigungen. Ich weiß nur, dass sie traurig sind.
    Ich fahre mit meiner Mutter und meiner Schwester. Die Autofahrt ist lang, doch diesmal streiten wir uns nicht. Mittags treffen wir uns mit der Verwandtschaft bei Opa und gehen gemeinsam zum Friedhof. Es ist Sommer, hier ist richtiger Sommer. Ich trage keine Strumpfhose zum schwarzen Kleid, weil Oma immer gesagt hat: «Ach, Kind! Du hast so schöne, stramme Waden!» Mit fünfzehn habe ich das als Euphemismus für fette Beine interpretiert, bis mir meine Mutter erklärte, dass Oma immer nur Hosen tragen würde, weil sie ihre Waden zu dünn fände. Ich denke, Oma würde sich über meine Beine freuen, wenn sie noch da wäre.
    Ihr Sarg ist in der Friedhofskapelle aufgebahrt, und als ich eintrete und den Holzkasten mit Blumen obendrauf sehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass Oma da drin ist. Das Blütenbouquet ist sehr bunt, meine Schwester trägt eine Sonnenbrille und wischt die Tränen umständlich drum herum weg, damit die Brille nicht verrutscht.
    Ich rege mich innerlich sehr darüber auf, ich weiß auch nicht, warum, aber wahrscheinlich ist, dass ich so versuche, meine eigenen Tränen noch eine Weile zu unterdrücken.
    Der Pfarrer kommt herein, stellt sich neben den Sarg hinter ein Rednerpult und fordert uns auf, ein Lied zu singen. Ich singe nicht mit. Ich weine nicht. Dafür weinen jetzt viele andere. Weinende Menschen an sich sind schon schlimm genug, aber Singsang-Geweine ist schlimmer. Es führt dazu, dass ich mich nicht auf mich und meine Gefühle konzentrieren kann, was ja schon schrecklich genug ist, dass ich mich auf Emotionen fokussieren muss, damit sie da sind. Und auch hierbei werde ich wütend, weil sich dieses Gesinge so schief anhört. Ich glaube, ich bin in Wirklichkeit einfach böse auf das hier alles, auf die Kirche und den Tod und die Erkenntnis, dass jeder Mensch sterben wird. Es ist eine unwirkliche Stimmung in mir.
    Ich mache mir Sorgen um meine Empathie und frage mich, wann sich die Wut in Traurigkeit verkehrt. Wir dürfen uns wieder setzen, jetzt wird nur noch zu Worten geweint, ich werde langsam ruhiger.
    Der
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