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Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Titel: Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
Autoren: Bente Varlemann
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Priester fasst Omas Leben zusammen, nennt ihre Lebensabschnitte, und es ist, als würde er aus einem Roman vorlesen. Das war also meine Oma. Ich bin die meiste Zeit ihres Lebens gar nicht anwesend gewesen, ich kenne nur die Fotos, auf denen sie jung war, ich war ein Kind, als es ihr gutging, ich wurde erwachsen, als sie immer kränker wurde.
    Und so habe ich viele Momente in meinen Erinnerungen, die sehr klein zu sein scheinen im Gegensatz zu denen, die Menschen haben, die um einiges älter sind als ich. Ich weiß nur aus den Erzählungen der anderen, was meine Oma dachte oder welche Meinungen sie vertrat. Aber ich weiß, dass sie mich in den Arm genommen hat, mit mir in den Gemüsegarten ging, dass wir früher Höhlen in ihrem Wohnzimmer bauen durften und sie uns dazu diese roten Süßigkeiten-Erdbeeren gab. Waren meine Schwester und ich nur zu zweit auf Besuch, dann schliefen Oma und Opa auf der alten Couch im Wohnzimmer und überließen uns ihr Bett. Meine Oma hat alles getan, damit es mir gutgeht.
    Und als der Pfarrer fast am Ende ihres Beinahe-Romanlebens angelangt ist und beschreibt, wie viel Freude sie an ihren Enkelkindern gehabt hat, fange ich an zu weinen.
    Nach der Trauerrede nehmen die Träger Oma im Sarg, und wir gehen hinterher. Meine Tante und ich halten uns gegenseitig im Arm, und nachdem der Sarg im Grab liegt, spricht der Pfarrer Gebete. Es ist windstill an diesem Tag im richtigen Sommer. Dann ein Windstoß, als Omas Name gesagt wird, er weht durch Haare und Kleider. Vielleicht nehmen wir alles um uns herum gerade jetzt sehr intensiv wahr, aber vielleicht gibt es doch etwas, das von Oma und deshalb hier ist.
    Wir beten das Vaterunser, und es wird wieder windstill. Als ich mit meiner Tante zum Grab trete, um mich leise zu verabschieden, überkommt mich die Trauer wie ein Orkan, meine Augen regnen Tränen, meine Lippen zittern wie bei Minusgraden, und ich verstehe, wie sich Abschied anfühlt.
    Dann stehen wir neben dem Grab und nehmen die Beileidsbekundungen wie Blumen entgegen, ich halte einen großen Strauß Trauer vor mir in meinen Armen. Als die Trauergemeinde an uns vorübergezogen ist, gehe ich mit meiner Familie noch einmal ans Grab. Wir schauen auf den Sarg, der dort in der Erde liegt, und auf die Blumen und den Sand, die alle hineingeworfen haben.
    Es hat Geräusche gegeben, als wir das taten, aber ich habe nicht gedacht, dass Oma es hört. Nicht, weil sie vielleicht doch nicht tot ist, sondern, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass sie dort drinliegt.
    Dann gehen wir Kaffee trinken. Es wird geredet und gelacht, und alle sind sich einig, dass Oma genau das hier gefallen hätte. Sie mochte es, wenn alle zusammen waren.
    Als meine Schwester, meine Mutter und ich am nächsten Tag noch mal zum Grab gehen, mache ich Fotos mit meiner Einwegkamera. Ich weiß nicht, warum, aber vielleicht versuche ich, die Traurigkeit festzuhalten, damit sie mir nicht wieder abhandenkommt. Mit dem letzten Bild fotografiere ich heimlich meine vor dem Grab stehende Schwester. Sie sagt, dass sie nicht aufgenommen werden will, und ich behaupte, ich hätte sie nicht im Bild gehabt.
    Wir reisen ab. Auf dem Nachhauseweg werde ich traurig und muss weinen. Ich muss daran denken, dass Oma jetzt schon eine Nacht unter der Erde verbracht hat, in einer Kiste, kalt. Alles ist dort unten so kalt. Ich versuche an etwas anderes zu denken, aber es gelingt nicht. Immer wieder muss ich an Oma in der Erde denken. Ich gehe alle Ansichten darüber, was nach dem Tod passieren könnte, durch und finde jede unpassend. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass danach nichts mehr ist, aber ich kann auch nicht an Himmel, Hölle oder die Ewigkeit glauben. Oma hat an Gott geglaubt, und als es ihr immer schlechter ging, hat sie gesagt, der Herrgott möge sie doch erhören. Acht Jahre lang hat sie darauf gewartet, dass sie stirbt. Omas Herrgott muss wohl schwerhörig gewesen sein.
     
    Oma starb an ihrem Hochzeitstag. Beigesetzt wurde sie am Geburtstag meiner Urgroßmutter. Nachdem Oma gestorben war, gewitterte es, und der Strom fiel für zwei Stunden aus.
    Es gibt viele Dinge, die ich nicht erklären kann. Ich kann Liebe nicht erklären. Das weiß ich schon eine ganze Weile.
    Ich kann Tod nicht erklären, und das weiß ich seit jetzt.

Alles in Bewegung
    Diese Stadt ist aus Wasser, aus waberndem Nebel.
    Sie schläft nicht, sie ruht nur, zum Ausschalten gibt’s keinen Hebel.
    Sie liegt einfach da, und ich lauf durch sie durch,
    sie trägt
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