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Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Titel: Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
Autoren: Bente Varlemann
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Vorwort
    Hallo. Ich heiße Bente Varlemann. Ich bin 27  Jahre alt und wohne in Hamburg. In einer 9 er- WG . In Hammerbrook. Für alle Nicht-Hamburger: Das liegt in der Nähe vom Hauptbahnhof. Es ist der letzte S-Bahn-Halt, bevor es über die Elbe nach Wilhelmsburg geht. Neben Bürogebäuden gibt es hier einige schmutzwasservolle Kanäle, in denen man auch schwimmen kann, allerdings nur, wenn es dunkel ist und man selber alkoholgetränkevoll. «Industrieromantik», sagen meine Mitbewohner über das Viertel. «Einfach nur laut», sage ich.
    Morgens kann man hier Möwen hören. Abends betrunkene Touristen. Und immerzu rauschen die Autos unter meinem Fenster in die Stadt hinein oder eben heraus, der Verkehr schläft nie – ich hingegen schon. Aber ich habe mich an das Rauschen gewöhnt. Ich mag Hammerbrook.
    Manche Menschen können nicht zu Hause schreiben. Ich kann nicht
nicht
zu Hause schreiben. Denn in meinem Zimmer ist es besser als in einem Café, ich kann mich freier bewegen, und auch das Umstellen des Schreibtisches ist kein Problem, wenn ich mal eine andere Perspektive brauche. Wenn ich vom Laptop-Bildschirm hochsehe, dann ist da zwar jetzt eine Wand. Trotzdem ist das schöner, als in den kargen Innenhof zu starren.
    Ich bin Studentin, immer noch. Während all der Jahre bin ich auch mal nicht wirklich zur Uni gegangen, sondern habe meine Zeit in Zügen und auf Bühnen verbracht, habe Orte besucht, in die ich ohne meine Geschichten nie gefahren wäre und in die ich nie wieder fahren werde. Ich habe Menschen getroffen, von denen ich nicht gedacht hätte, sie zu mögen und zu schätzen.
    Geschichten habe ich hingegen immer geliebt. Als ich klein war, hat mir meine Mutter Bücher vorgelesen. Einige so oft, dass wir sie beide immer noch auswendig können. Mein Vater hat sich manchmal Geschichten für mich ausgedacht. Mein Opa erzählte mir Geschichten, die er erlebt hat. Irgendwann begann ich selbst, Geschichten und Gedichte zu schreiben. Nur für mich. Das habe ich gemacht, bis ich 2006 das erste Mal auf einem Poetry Slam aufgetreten bin. Es war aufregend, meine Hände konnten die Blätter kaum halten vor Angst. Diese Angst hat sich über die Jahre in Nervosität gewandelt. Andere Ängste sind geblieben. Manchmal ist es die Furcht vor dem nächsten Tag, manchmal vor der Zeit. Drama im Alltag, ich sitze auf dem Industrieteppich meiner WG und frage mich, wer ich bin, wo ich sein will und wer ich sein will. Was es wohl bedeutet, erwachsen zu werden, und ob es da ein Ankommen gibt. Ob es überhaupt je ein Ankommen geben wird. Und ob das erstrebenswert ist.
    Ich habe das Gefühl, ständig irgendetwas finden zu müssen, ohne zu wissen, wonach ich suchen sollte. Nach einer Sache suche ich allerdings nicht: Und das ist der Sinn. Nichts und alles kann Sinn haben, ist also vollkommen irrelevant. Und weil ich vieles, was eigentlich egal ist, trotzdem begreifen will und besser begreifen kann, wenn ich es aufschreibe, stehen hier eben Wörter. Wörter und Geschichten.
    Jetzt sitze ich in meinem Zimmer, der Verkehr und die Möwen sind laut, und selbst die Sonne scheint mal in dieser Stadt, in der es sonst immer regnet. Der Kaffee neben mir ist nur noch lauwarm, und die Zigarettenglut verglimmt im Aschenbecher. Ich gucke zur Wand, wieder zurück und fange an zu schreiben.
     
    Es ist Zeit.
    Wach zu werden.

Wohnung suchen
    Irgendwann kommt der Moment. Dieser Augenblick, auf den manche lange und andere gar nicht gewartet haben. Irgendwann mit fast oder dann doch schon zwanzig oder eben irgendwann später – oder früher. Dann will man von zu Hause ausziehen. Manchmal muss man es auch, weil die Eltern einen nerven oder weil man seinen Eltern auf die Nerven geht. Oder beides. Man braucht also eine Stadt und eine Wohnung.
    Ich habe 2005 mein Abitur gemacht. Schon drei Jahre vorher habe ich gehofft, die Zeit bis dahin möge schnell, sehr schnell vorübergehen, damit ich aus dem Dorfidyll der Langweile endlich für immer in die Welt da draußen gehen kann.
    Nach zahlreichen Bewerbungen an Universitäten, ein paar Absagen und einigen Zusagen, wobei ich mich bis heute frage, warum ich einmal ernsthaft geglaubt habe, Politik und Philosophie studieren zu wollen, schrieb ich mich in Münster ein. Münster ist eine schöne Stadt. Eine schöne, teure und wohnungstechnisch unmögliche Stadt. Ich fuhr hin und schaute mir WG -Zimmer an. Nichts. Ich fuhr ein weiteres Mal hin und schaute mir mit hundertfünfzig anderen Menschen eine Wohnung an.
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