Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unguad

Unguad

Titel: Unguad
Autoren: Ingrid Werner
Vom Netzwerk:
Markovics’ graue
Augen leuchteten. Lilli, Susa und Vicky umarmten und herzten ihren geliebten
Opa. Zur Feier des Tages hatten sie ihre zerrissenen Jeans gegen Röcke und
Sommerkleider eingetauscht. Ihre blonden Haare waren zu sittsamen Frisuren
gebändigt, und ihre Füße bekleideten Ballerinas anstatt Hip-Hop-Sneakers.
Adrett sahen sie aus. Wie Mädchen seiner Meinung nach auszusehen hatten. Sie
legten ihm ihre selbst gemachten Geschenke in den Schoß. Während wir schon die
Oma begrüßten, die strahlend danebenstand, trat Linus vor. Ungelenk hatte er
seine Rechte zur Gratulation ausgestreckt. Tibor hatte sie genommen und seinem
Enkel verschmitzt zugezwinkert. Dieser hatte seinen Mund zu einem halben
Lächeln verzogen, froh, vom Opa auch wortlos verstanden worden zu sein.
    Aber jetzt kehrte ich ohne Vase zurück. Ich war etwas zittrig auf
den Beinen. Der Schreck über meinen grausigen Fund wartete lauernd darauf, aus
mir herausbrechen zu können. Ich befahl mir, Ruhe zu bewahren und einfach zu
funktionieren.
    Das Leben liebt jedoch Gegensätze. Und so hörte ich aus dem Zimmer
meiner Eltern fröhliches Stimmengewirr. Anscheinend waren noch mehr Gratulanten
eingetroffen. Ich atmete ein paarmal tief durch, um mich etwas zu beruhigen.
Dann öffnete ich vorsichtig die Tür, um sie niemandem in den Rücken zu rammen.
Das war gut so, denn der Raum war überfüllt mit Leuten. Inzwischen schien auch
der Fotograf der Passauer Neuen Presse angekommen zu sein. Der Mann mit dem
beeindruckenden Fotoapparat war gerade damit beschäftigt, alle Enkel samt
drittem Bürgermeister um den Jubilar zu drapieren. Bei all dem Trubel achtete
niemand auf mich, wie ich auf Zehenspitzen in der Tür stand und winkend
versuchte, Martins Blick auf mich zu lenken. Es dauerte eine ganze Weile, bis
mein Ehemann auf mich aufmerksam wurde. Er zog seine Augenbrauen in die Höhe.
Ich verstärkte mein Winken. Endlich bahnte er sich einen Weg zu mir.
    »Was ist denn?« Er trat hinaus auf den Gang.
    Möglichst schnell und leise schloss ich hinter ihm die Zimmertür.
»Los! Komm mit! Ich habe eine Leiche gefunden!« Ich packte ihn am Arm, Martin
blieb jedoch wie angewurzelt stehen.
    »Was? Karin, das gibt’s doch nicht! Soll das ein schlechter Scherz
sein?« Ungehalten schaute er von seinen eins neunzig auf mich herab.
    »Nein! Komm schon, dann kannst du dich selbst überzeugen!« Der
Skeptiker! Ich ließ ihn los und eilte davon. Widerstrebend folgte er mir durch
den langen Gang zur Abstellkammer.
    Die alte Dame von vorhin hatte sich vorsichtig näher an die Tür
gerollt und schien nach Geräuschen im Zimmer zu lauschen. Als sie uns hörte,
schrak sie auf und schaute mich mit beinahe ängstlichen Augen an.
    »Ich hab nix g’macht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es is keiner eini.«
    »Prima. Danke. Aber jetzt müssten wir hier mal bitte durch.« Sie zog
sich von ihrem Wachposten zurück, und ich öffnete für Martin die Tür, so weit
es eben möglich war. Er schlüpfte vorbei. Ein leises »Oh mein Gott!« entfuhr
ihm und rasch kniete er sich nieder, um bei Elvira den Puls zu suchen.
Vergeblich.
    Ich schaute ihm zu und versuchte, meine Übelkeit zu ignorieren. In
Elviras Gesicht konnte ich nicht sehen. Sie war schon zu Lebzeiten keine
Schönheit gewesen. Viel zu maskulin und plump. Der Todeskampf hatte noch sein
Übriges getan. Ich wandte meinen Blick ab und ließ ihn durch den Raum
schweifen. Bis auf Elviras unappetitliche Leiche konnte ich allerdings nichts
Ungewöhnliches entdecken. An den Wänden ragten Metallregale bis zur Decke
hinauf. Auf ihnen stapelten sich die unterschiedlichsten Dinge. Auch
Blumenvasen wären darunter gewesen. Links befand sich ein Schrank, eine Tür war
geöffnet. Ich erkannte Leintücher und Bettwäsche. Möglicherweise hatte die
Pflegerin gerade frische Wäsche holen wollen. Einige Sachen lagen auf dem Boden
neben dem skurril verdrehten Körper. Diese schien Elvira in ihren letzten
Minuten unkontrolliert aus den Regalen gewischt zu haben. Laken, ein
Aschenbecher, alte Kippen, blaue Tassen aus Plastik, Packungen mit
Inkontinenzwindeln und seltsamerweise ein paar Weihnachtsgirlanden, die aus
einem Pappkarton lugten. Am Oberlicht summte es wütend. Ich schaute hinauf.
Eine Wespe versuchte vergebens, in die Freiheit zu gelangen.
    Mit meinem Körper verdeckte ich den Türspalt vor den neugierigen
Blicken der alten Frau. »Was is passiert?«, wollte sie wissen. Um eine Antwort
drückte ich mich und tat so, als ob ich sie nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher