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Unguad

Unguad

Titel: Unguad
Autoren: Ingrid Werner
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andere
Heimbewohner und Besucher zu interviewen. Allerdings waren alle viel zu
aufgeregt, um mehr als nur »wie schrecklich« von sich zu geben. Zu guter Letzt
wurde es der Polizei zu bunt und gegen den Reporter erging die dringende
Aufforderung zu verschwinden. Anscheinend hatte der Zeitungsmensch fürs Erste
auch genug Informationen zusammengetragen, denn er trollte sich ohne großen
Protest.
    Der Flur mit den Sitznischen war an der Absperrung mit Schaulustigen
übervölkert. Der Tod von Elvira hatte sich in Windeseile herumgesprochen, und
so kamen alle, die sich noch selbstständig bewegen konnten. Diejenigen, die
meinten, mehr zu wissen als ihre Nachbarn, ventilierten lautstark ihre
Ansichten. Jeder, der neu dazugestoßen war, wurde über den aktuellen Stand der
Mutmaßungen informiert. Auch mein Vater hatte sich mit meiner Mutter und seinen
Gratulanten hierher begeben. Auf seinen schwarzen Spazierstock gestützt –
seinen Rollator benützte er nur an schlechten Tagen – stand er aufrecht im
guten Anzug zwischen den tratschenden Frauen und Männern in ihren abgetragenen
Alltagskleidern. Ganz der Patriarch, der er immer sein wollte. Seine für sein
Alter immer noch sehr fülligen weißen Haare fielen in herrschaftlichen Wellen
um sein Gesicht. Sie verliehen ihm ein aristokratisches Aussehen. Dieser
Eindruck wurde durch die leichte Hakennase in seinem schmalen Gesicht und das
sehr ausgeprägte Kinn noch unterstrichen. Das verstärkte die natürliche
Autorität seines Auftretens.
    Er sah beobachtend von den Polizisten zu den Schwestern und den Gang
hinunter zur Absperrung. Seine Miene blieb ausdruckslos, während meine Mutter
an seinem Arm hing und sorgenvoll um sich blickte. Ich drängelte mich zwischen
all den alten Leuten zu ihm durch. Dabei stellte ich überrascht fest, dass alle
kleiner waren als ich. Eine Kunst bei meiner Größe von einem Meter
sechsundsechzig.
    Ich beugte mich hinüber. Den Lärm um uns herum so gut es ging
übertönend, sprach ich laut und deutlich in sein rechtes, das heißt gutes Ohr:
»Es tut mir leid, dass das hier deinen Geburtstag so durcheinanderbringt. Geh
doch mit deinen Gästen ruhig schon hinunter ins Lokal zum Essen. Ich muss auf
einen von der Kriminalpolizei warten, der mich befragen will. Das hat man mir
mitgeteilt. Es wird also noch etwas dauern, bis ich kommen kann.«
    »Stimmt es, dass die Tote die Elvira ist?« Gegenfrage statt Antwort.
Das war ich jedoch schon seit vierundvierzig Jahren gewohnt.
    »Ja«, gab ich als brave Tochter Auskunft.
    »Und wie ist sie umgekommen?«
    »Das weiß man noch nicht.« Ich würde jetzt keine Einzelheiten
ausplaudern, auch wenn er das erwartete. Allzu gehorsam sollte man nie sein.
    »Karin! Dein Mann hat sie doch untersucht!« Aha, er hatte es also
gehört und ließ nicht so leicht locker.
    »Ja, aber die Todesursache wird erst in der Obduktion festgestellt.
Außerdem ist das hier nicht der richtige Ort, darüber zu reden.« Meine Hand
beschrieb einen Bogen und machte ihn auf die Umstehenden aufmerksam. Mein Vater
sagte nichts mehr. Für dieses Mal gab er sich zufrieden.
    Er drehte sich um und ging mit seinem Hofstaat zum Essen. Ein paar
Momente schaute ich ihm hinterher. Ein alter Mann, auf Haltung bedacht.
Allerdings wusste ich, dass ihn der heutige Festtag mehr Kraft kostete, als er
zugeben würde. Und jetzt noch das Schlamassel mit der toten Pflegerin! Ich
seufzte.
    Das Gemurmel um mich herum war lauter geworden. Eine Frau neben mir
stieß ihre Nachbarin an und zischte: »Schau, noch mehr Polizei!« Da blickte
auch ich wieder in Richtung Abstellkammer. Und richtig. Jetzt waren Beamte in
Zivil eingetroffen und besprachen sich mit den Kollegen in Uniform. Ein
jüngerer Mann mit einer zerknitterten beigen Popelinejacke und einer leicht windschiefen
Haltung registrierte die Ansammlung der Bewohner und winkte Schwester Sieglinde
zu sich. Ein knappes Gespräch, ein Telefonat und schon hörte man die Wagen mit
den Mittagessentabletts aus dem Aufzug poltern. Die Altenpflegerin forderte die
Senioren auf, sich für das Essen in ihre Zimmer zurückzuziehen oder in den
Gemeinschaftsraum zu kommen. Manche murrten. Als die Schwester den ersten
Rollstuhlfahrer jedoch resolut in das gemeinschaftliche Speisezimmer schob,
gaben sich die anderen geschlagen und schlurften leise schimpfend von dannen.
    Ich beobachtete, wie Martin herbeigerufen und zur Befragung in ein
leeres Zimmer geführt wurde. Ein bisschen unschlüssig stand ich neben einer
Couch
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