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Unfassbar für uns alle

Unfassbar für uns alle

Titel: Unfassbar für uns alle
Autoren: Horst (-ky) Bosetzky
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drin...»
    Da konnte ich nicht mehr länger an mich halten. Ich schwang mich über die Barriere, die die Balkone voneinander trennte, und stürmte ins Nachbarzimmer.
    «Kriminalpolizei! Dieses Dokument ist mir auf der Stelle auszuhändigen!»
    Das war fürchterlich förmlich bis albern, aber es erreichte seinen Zweck: Joan und Schwermer verzichteten auf jeden Widerstand, und Hermann Hackenow gehorchte und reichte mir die beiden Blätter. Ich las laut vor, was da geschrieben stand, las Passagen aus dem zweiten Teil von Woerzkes Abschiedsbrief.
     
    ...nicht Du, JOAN, bist die Ursache, daß ich es endlich tue. Du bist höchstens der Auslöser, der letzte Anstoß. Alles ist ganz anders, Du weißt es nur nicht. ‹Wo ist aber Ruhe? Nur dort, wo es keine Erinnerung gibt.› Ich habe doppelt Grund, dieser Erinnerung zu entfliehen. Du hast von Luise gehört, Luise Tschupsch aus Friedrichsheide, meiner ersten großen Liebe. Ich habe für sie geschwärmt, ich habe sie vergöttert... bis dann Marianne kam, eine junge Schauspielerin aus den großen Ufa-Zeiten. Mein Vater kannte ihre Eltern, und als sie aus Ostpreußen flüchten mußten, kamen sie mit dem großen Treck zu uns nach Friedrichsheide. Als der Krieg zu Ende ging, blieben sie zunächst. Und alles kam dann so, wie es kommen mußte. Es ging alles so vonstatten wie in einem antiken Drama. Marianne und ich wurden ein Paar – und Luise konnte das nicht verwinden. Sie sann auf Rache und lief zu den sowjetischen Offizieren, um mich zu denunzieren. So kam ich ins Speziallager Nr. 7 des NKWD... Über diese Hölle muß ich wohl nichts weiter berichten. Was mich aufrecht hielt, war nur der Gedanke, mich nun meinerseits an Luise zu rächen. Doch als mir dann die Flucht gelang, war sie verschwunden, und es erschien mir wichtiger, das eigene Leben zu retten, das heißt, die sowjetische Besatzungszone und das unsichere Berlin so schnell wie möglich zu verlassen, bis ans andere Ende der Welt zu fliehen, bis nach Amerika. Daß ich dort gescheitert bin, weißt Du selber. Für mich gab es daran nur eine Schuldige: Luise Tschupsch. Sie war die wahre Ursache, der einzige Grund. Das Lager hat mich innerlich zerstört. Diesen Krebs in meiner Seele hat kein Psychiater heilen können. Du weißt, wie oft ich in der Klinik war. Die ganze Zeit über hat mich ein Bild verfolgt, eine Vorstellung: eine Pistole zu nehmen und Luise in den Mund zu schießen. Diesen Mund zu zerstören, der die Worte gesprochen hat, die meine psychische Hinrichtung waren. Meinen Körper habe ich retten können, meine Seele jedoch ist dort vernichtet worden, mein eigentliches Ich. Durch sie. Besessenheit, fixe Idee, Wahn, nenne es, wie Du willst, ich mußte es tun. Ohne Dein Wissen. Du dachtest, ich habe noch in Hannover zu tun, nein: ich war mit einem Mietwagen unter falschem Namen in Berlin. Zwei Tage vor unserer offiziellen Rückkehr, und ich habe nach Luise gesucht. Ihr Name stand im Telefonbuch, Spessartstraße. Ich habe geklingelt, und es hat keiner geöffnet. Ein Zettel hing an der Tür. ‹Bin bei Ingeborg in Oranienburg). Da erinnerte ich mich an Ingeborg Bücknitz, mit der wir zusammen eingeschult worden sind, und ich habe mich in die S-Bahn gesetzt. Unter der Eisenbahnbrücke über den Oder-Havel-Kanal bin ich dann auf Luise gestoßen. Es gab nur einen kurzen Dialog, ein Gestammel, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Nur soviel weiß ich noch, daß ich es nicht tun wollte, nicht mehr nach so vielen Jahren, doch sie hatte kein Wort der Reue übrig, sagte nur: ‹Du hast mich doch verraten, du hast mich doch betrogen, du hast doch selber alles ausgelöst!› Da hab ich dann geschossen. Es war wie ein Reflex. Ich konnte nicht anders. Daß sie mich noch immer geliebt hat, daß der Blumenstrauß im Schmachtenhagener Forst von ihr war, das habe ich ja alles erst später erfahren... Mit ihrem Schlüssel war ich in ihrer Wohnung und habe einiges gestohlen. Um jeden Verdacht von mir abzulenken. Aber... Was bleibt mir jetzt, als meinem Leben ein Ende zu machen...
     
    P. S. Ich möchte neben Luise begraben sein. Dir bleibt von meinem Erbe das Pflichtteil, alles andere soll mein Friedrichsheide erhalten und in eine Stiftung einbringen, die sich um diejenigen kümmert, die in Lagern wie ich gelitten haben.
     
    Friedrichsheide, den 1. 2. 1994
    Waldemar v. Woerzke
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