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Und wir scheitern immer schöner

Titel: Und wir scheitern immer schöner
Autoren: Dirk Bernemann
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zu schutzbedürftig für die wirklich wahre Ware Wahrheit. Die kann ich ihnen noch nicht verkaufen. Meine Zeit rennt mir weg. Tim und Kevin sind sechs und acht.
     
    Um mich herum Gejohle und besoffene Freude. Licht und Geräusch sind hell und laut und alles andere kann man hier tun als sich Gedanken machen. Mein Kopf ist schwer. Ich lüge mich an. Ich lüge alle an. Ich drehe mich im Karussell aus Feig- und Dummheit.
     
    Unten steht die, aus deren Schoß die Kinder gestiegen sind. Die kleinen Leben sind verklebt aus Petra rausgekrochen. Die Mutter. Ihre Mutter. Meine Frau. Auch sie weiß nichts. Sie ahnt nichts. Vielleicht rennt auch schon ihre Zeit weg. Sie hat so viele wunderbare Eigenschaften.
     
    Irgendwo in der Nähe von Sevilla liegt ein Typ im Krankenhaus und stirbt an Aids. Er heißt Fernando Goringas. Den habe ich auf meiner letzten Geschäftsreise kennen gelernt. Er war Kellner und brachte mir und meinen Arbeitskollegen Stierhoden. Wenig später ging es um Menschenhoden. Um seine und meine. Unsere Zungen an denselben. Die Lust durchflutete ein spanisches Hotelzimmer. Ich in ihm. Er in mir. Überall der Geist internationaler Erregung.
     
    Dann kam ich zurück nach Deutschland. Mit der Verdrängung von Senior Goringas. Der kam erst wieder in meinen Kopf zurück, als eine Routineblutuntersuchung mir ins Gesicht schrie: HIV POSITIV. Das ist jetzt auch schon vier Monate her. Meine Feigheit kotzt mich an.
     
    Meine Frau muss ich mir seitdem mit Lustlosigkeit vom Leib halten. Ich weiß, dass sie deswegen fremdgeht. Sie bemüht sich nicht mal mehr, es vor mir zu verheimlichen. Aber für unsere Kinder sind wir immer noch Mama und Papa. Wir Schweine.
     
    Wer weiß schon, wann er wie stirbt, denke ich im Kettenkarussell, den ich mir als Schleudersitz in die Wahrheit wünsche. Meine Jungs lachen. Würden sie auch noch lachen, wenn sie wüssten, dass ihr Vater einen tödlichen Virus in sich trägt, den er nur seiner obszönen Geilheit verdankt. Ich bin nicht mal schwul. Ich wollte einfach nur meinen Schwanz in was Warmes halten. Zufällig Aids.
     
    Petra winkt. Einfach die Kette vom Karussell lösen und wegfliegen ... über die Losbude und keinen Hauptgewinn und egal wohin, nur weg.
     
    Ich bleibe sitzen und warte das Ende der Fahrt, wie auch das meines Lebens, einfach ab.
     
     
     
     
     
     
     
     
    Szörti
     
     
    Eine Ansammlung schlechter Eindrücke erwirkt einen kleinen Brechreiz. Nahrung auf der Flucht vor mir, ich kann sie im Hals gerade noch bremsen, denn ich bin in der Öffentlichkeit. Eine Ü-30-Party auf dem Land in einer Disco mit Namen ‹Allstar›. Natürlich, alle Stars hier. Alle super. Alle tanzen zu Kackmusik.
     
    Ü-30, wie schlecht eigentlich. Ü wie übel, ‹ünterste› Schublade und üben, üben, üben. Das Leben habe ich immer geübt. Da waren einige Ernstfälle, aber der eigentliche Ernstfall, der persönliche Super-GAU, ist das Man-selbst-sein-und-sich-selbst-überlassen-Sein. Da stehe ich mit meiner verheirateten Freundin Petra und muss fast kotzen vor Angst, ungefragtem 80er-Jahre Pop – als ob anständige 30-Jährige so was hören wollten! – und einem Rudel seltsamer Typen. Eine Koalition der Sonderlinge.
     
    Das Altern ist nur ein Gedächtnis der Unvernunft. Die Jugend verschwand in einem Tuch. Jemand hat sie weggeputzt, diese Unbeschwertheit. Und nun ist da Flügelnot. Es zieht einen auf den Boden. Ein jugendliches Herz wächst nicht nach. Nur der alte, leidige Brocken bleibt und schlägt schleifend in einem herum. Pock, pock, pock. Beständigkeit versus Vergänglichkeit.
     
    Ein Typ kommt auf uns zu. Aus den Boxen viel zu laut die Stimme von Boy George. Der Auf-uns-Zukommer scheint betrunken. Bebend vor Culture Club: «Do you really want to hurt me, do you really want to make me cry?» Sieht ganz so aus, als wolle er genau das mit uns tun. Dann steht er vor uns. Stinkend vor guter Partylaune mit einem Mittelklasselächeln.
     
    Der Typ fragt, ob eine von uns Lust zum Tanzen habe. Petra ist sich für nichts zu schade und geht mit. Sie hat Probleme mit ihrem Ehemann. Da läuft nichts Sexuelles mehr, nur schwerwiegendes Schweigen und nebenbei sind da zwei Kinder. Also nimmt Petra das Obst auf, das von den Bäumen fällt. Ich starre in die Tanzmenge und fühle Verlorenheit.
     
    Habe weder Lust auf Alkohol noch auf Gesellschaft. Ich distanziere mich gern von vielerlei. Aber ich tue Petra diesen Gefallen, denn es ist ihre Party. Sie kommt gern hierher und macht Männer
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