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Und weg bist du (German Edition)

Und weg bist du (German Edition)

Titel: Und weg bist du (German Edition)
Autoren: Kate Kae Myers
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schickte meinen Pflegeeltern einen Brief, in dem ich mich bei ihnen bedankte. Auch entschuldigte ich mich dafür, so unerwartet zu gehen, und versicherte ihnen, dass ich sie nie vergessen würde.
    In den darauffolgenden Wochen blieb ich allein, fuhr von einem Ort zum nächsten und lebte von dem Geld auf meinem Konto. Ich überquerte die Grenze nach Kanada. Eine Weile blieb ich in Toronto, doch die Stadt war mir zu groß und laut und ich erlebte einige Momente der Panik, in denen ich glaubte von Paul Gerard verfolgt zu werden. Auch wenn ich den Chip nicht länger bei mir hatte und ziemlich sicher sein konnte, dass die Erlebnisse in Seale House ihn wahrscheinlich für immer abgeschreckt hatten, ließ mich sein wahnsinniger Blick doch nicht los. Immer wieder sagte ich mir, ich würde mir nur einbilden, dass er mich verfolgte, doch vorsichtshalber zog ich lieber weiter.
    Ich beschloss nach Osten zu fahren und machte als Nächstes in New Brunswick und Novia Scotia halt, zwei Gegenden in Kanada, die ich schon immer hatte sehen wollen. Während ich dort war, blieb ich für mich und nahm mir die Zeit, die ich brauchte, um wirklich um meinen Bruder zu trauern, was ich nie getan hatte. Auch recherchierte ich über multiple Persönlichkeitsstörung. Mehreren Artikeln zufolge, die ich online las, war es ein gutes Zeichen, wenn die Persönlichkeiten wieder ineinanderflossen. Das zeige den Fortschritt des Patienten. Psychologen nannten diese Entwicklung Integration der Persönlichkeiten. Nur leider fühlte es sich alles andere als gut an. Obwohl ich mich jetzt an einige von Jacks Erlebnissen erinnern konnte, spürte ich noch immer eine große Leere in mir. Und jedes Mal wenn ich mich duschte oder umzog, sah ich das tätowierte Kreuz, das mir ständig vor Augen führte, wie mein Bruder mein Leben geprägt hatte.
    Was Sam Lessings Behauptung anging, ich besäße telekinetische Fähigkeiten, war ich mir noch immer nicht sicher, ob nicht doch alles mit Seale House zusammenhing. Jetzt, da ich von dem grässlichen Ort weit entfernt war, schienen meine »Kräfte« verschwunden zu sein.
    Ich verbrachte die Tage mit Lesen und Reisen und tat so, als wäre ich eine normale Touristin. Nachts fiel es mir jedoch schwer, allein zu sein. Oft dachte ich an Noah und sah ihn noch immer vor mir, wie er auf dem nebeligen Gehsteig in Watertown stand. Obgleich ich mich danach sehnte, ihn wiederzusehen, war ich mir sicher, dass es kein Zurück gab. Zum einen war ich dafür verantwortlich, dass sein Leben in Scherben lag, weil meinetwegen sein Zuhause und alles, was er besessen hatte, zerstört worden waren. Und was noch schlimmer war: Er hatte seinen besten Freund verloren und ich konnte mir nicht vorstellen ihm je wieder gegenüberzutreten.
    Der Mai ging in den Juni über und ich reiste weiter nach Prince Edward Island, wo ich als Kind nach der Lektüre der Anne-auf-Green-Gabels-Bücher von L.M. Montgomery unbedingt hingewollt hatte. Als Noah, Jack und ich uns Orte ausgesucht hatten, wo wir am liebsten leben würden, war meine Wahl auf diese Insel gefallen, und als ich dort ankam, wurde ich nicht enttäuscht. Sie war noch schöner, als ich sie mir ausgemalt hatte.
    In der kleinen Stadt Charlottetown fand ich einen Job in einer Buchhandlung und mietete mir ein Zimmer in einer einfachen Pension. Die Tage vergingen in friedlicher Gleichmäßigkeit. Ich arbeitete, las die Montgomery-Bücher noch einmal, die die Insel berühmt gemacht hatten, und unternahm lange Spaziergänge. Ich konnte es kaum erwarten, achtzehn zu werden und damit endlich auch rechtlich erwachsen und von der Angst befreit, wieder in eine Pflegefamilie gesteckt zu werden.
    Am 1. Juli, in den ersten Morgenstunden meines achtzehnten Geburtstags, träumte ich von Jack. Wir waren noch Kinder und feierten unsere Geburtstage mit einem verrückten Kickballspiel im Park. Er tat so, als würde er in Zeitlupe rennen, und ich lachte darüber, wie komisch er aussah. Nachdem ich aufgewacht war, spürte ich noch die fröhliche Stimmung dieser Szene und wurde ganz ruhig. Ich hatte plötzlich das Gefühl, der schwere Stein, der so lange auf mein Herz gedrückt hatte, würde langsam angehoben werden.
    An jenem Abend setzte ich mich ans Wasser und betrachtete das Feuerwerk anlässlich des kanadischen Nationalfeiertags. Lächelnd dachte ich an unseren achten Geburtstag, den wir in Toronto verbracht hatten. Jack hatte zu mir gesagt, dass wir gar keine Geschenke bräuchten, wir hätten ja das Feuerwerk und
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