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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin
Autoren: Sven Kemmler
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Kollegen in Zivil. Seine eigene Uniform war beeindruckend, und ich sah ihn vor meinem geistigen Auge die eine oder andere Parade abnehmen. Sein Kollege schien etwas lockerer in dem Sinne, dass er Gesichtsregungen zeigte, und ich dachte schon, jetzt kommt »good cop, bad cop«.
    Und so war es auch. Der Kollege nahm meine Anzeige freundlich auf, natürlich nicht ohne zuvor die sehr wichtige Frage zu stellen, wie das Ganze denn passiert sei.
    Worauf ich mein Lächeln noch einen Gang höher schaltete und zum dritten Mal runterspulte, was geschehen war.
    Aber ich habe meine Anzeige bekommen, handgeschrieben und in Thai-Schrift. Ich weiß nicht, was er geschrieben hat, nur dass es dem Aussehen nach nicht in Versform gehalten war.
    Ich trage die Anzeige seither immer bei mir, als Glücksbringer, werde sie aber niemandem zeigen, denn ich bin mir sicher, da steht in thailändischer Schrift:
     
 
    »Wenn Sie das lesen, haben Sie einen kompletten Volltrottel vor sich, den Sie entweder einsperren, ausweisen oder auf der Stelle berauben sollten, und zwar aus Prinzip. Und wenn er Sie gerade so debil anlächelt wie mich, der ich hier mit dem Schreiben dieser Zeilen meine Zeit verschwende, dann achten Sie darauf, sich nicht zu übergeben, und wenn Sie es doch müssen, dann bitte auf seine Schuhe. Ich vermute, er ist Künstler, mehr muss man dazu nicht sagen.
     
 
    Gezeichnet
    der Adjutant von »El Presidente«
     
 
    Der weitere Aufenthalt auf Koh Tao verlief dann glücklicherweise unspektakulär. Es war kein »Wollen« mehr, und wenn, habe ich es sofort mit einem gefüllten Pfannkuchen bekämpft. Außer einigen Notizen war ich die meiste Zeit einfach nur sehr entspannt bei mir und am Meer.
    Doch habe ich tatsächlich, allerdings in den fünf Monaten nach Koh Tao, ein Programm geschrieben, das ich im sechsten Monat mit der Hilfe Tyches auf die Bühne brachte. Dieses Programm bestätigte dann auch zum ersten Mal das Gefühl, Künstler zu sein. Es war ein wunderbares Gefühl, gleichzeitig erfüllend und doch unspektakulär, als wäre es immer da gewesen und ich hätte es nur nicht gesehen. Ein Wiedererkennen eben.
    Seither kann ich anderen Künstlern in die Augen blicken, ohne das ständige Gefühl, ein Betrüger zu sein. Ich begegne ihnen auf Augenhöhe, in der Erkenntnis, dass wir alle Betrüger sind, Teil einer großen Bande von Räubern und Betrügern, so wie alle Menschen eben. Künstler zähle ich allerdings zu den guten Räubern und Piraten, aber dazu bin ich ja auch verpflichtet, schon durch den Künstlerkodex, auf den ich jetzt Zugriff habe.
    Im Zuge dieses inneren Höhenfluges fand ich mich prompt in einer ähnlichen Situation wie bei meiner Landung in Bangkok wieder. Zum Ankommen kam jede Menge Loslassen.
    Ich musste feststellen, dass ich es mir eigentlich gar nicht hatte leisten können, beinahe ein Jahr darauf zu verwenden, Künstler zu werden. Denn ich hatte in diesem Jahr keine Aufträge und nur eine Handvoll Auftritte gehabt. Ich war erst mal wieder ein Stück weit aus dem Geschäft heraus. Und mir wurde klar, dass ich die Jahre zuvor meine Einkünfte überschätzt hatte und die Schulden sich mittlerweile so hoch türmten, dass sie wie der Turm zu Babel über mir einstürzen würden, bevor sie bis in den Himmel reichten.
    Genau das geschah, und es ging ebenso schnell, wie es sich hier liest. Innerhalb von zwei Wochen war ich von ein wenig Regen in die Mutter aller Traufen gekommen. Die Bank hatte mir den Hahn zugedreht, aus dem sie mich zuvor gespeist hatte. Ich konnte es ihr nicht verdenken.
    Ohne die Soforthilfe von Freunden hätte ich private Insolvenz anmelden müssen. So war ich also als Künstler angekommen, aber finanziell in der gleichen Situation wie im Jahr des Wanja, nur dass die Schulden höher waren.
    Nach vierzig Jahren war ich auf einem neuen Weg, aber wie schon so oft zuvor mit nichts in der Hand.
     

32
     
    schriftsteller
     
    Künstler geworden zu sein, hat mir erlaubt, endlich ein Buch zu schreiben. Das wäre vorher nicht möglich gewesen. Seit ich unter der Bettdecke mit der Taschenlampe Jules Verne las, war Schriftstellerei für mich etwas zu Großes, um es selbst zu machen. Doch Künstler sein heißt, dem Wahnsinn Raum zu geben, und zum Wahn gehört auch der Größenwahn. Es fühlt sich trotzdem ein wenig an wie bei einem Zauberer, der einen Trick einstudiert hat und dann behauptet, es sei echte Magie. Aber wenn der Leser ebenfalls dem Wahnsinn Raum einräumt, ist das egal, und der Zauber
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