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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin
Autoren: Sven Kemmler
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Verspätungsverursacher beim Schimpfen zu lauschen, ist einfach jenseits des Ereignishorizonts.
    Das war also das Zeichen.
    In New York selbst habe ich dann zehn Tage lang nicht eine einzige Sehenswürdigkeit besucht, wie den Central Park oder das Empire State Building. Stattdessen habe ich zehn Tage gemeinsam mit Aristoteles ausschließlich Comedy geschrieben, sie live und auf DVD gesehen, bearbeitet und mich darüber ausgetauscht. Wir waren in Comedyclubs und offenen Bühnen, und am vorletzten Tag, nachdem ich der Sache immer noch nicht müde war, setzte ich mich schließlich nachts auf das Dach des Hauses, in dem das Apartment lag, schaute auf das Empire State Building und beschloss: Wenn mir in diesem Moment ein Text einfällt, dann werde ich am nächsten Tag in einem sogenannten Open-Miker-Club (also einem Club, wo jeder darf, der will) auftreten.
    Es kam ein Text, und ich trat auf. Aristoteles feuerte mich an.
    Und ich hatte das Gefühl, diesmal »wollte« ich nicht nur, ich tat es.
    Wieder heimgekehrt schrieb ich sofort ein Bühnenprogramm, das ich unter dem Titel »Modernde Zeiten - der Trug scheint« vier Jahre lang aufführte. Wobei der Titel sich als ein Wortspiel herausstellte, das grundsätzlich jeder überlas, weshalb das Programm immer als »Moderne Zeiten« angekündigt wurde. Das zeigt, man kann aus leisen Tönen eben leichter Stille machen.
    Mit Ausschnitten dieses Programms habe ich auch an namhaften Comedy- beziehungsweise Kabarettwettbewerben teilgenommen, die ich allesamt nicht gewann. Meistens nennt man diese Veranstaltungen natürlich nur deshalb Kabarettwettbewerbe, weil es einfach feuilletonistischer klingt. Darunter war auch ein Wettwitzen im östlichen Bayern, in einem Haus, wo früher Hinrichtungen stattfanden. In meinem Fall bezog sich das Hinrichten jedoch auch auf die Gegenwart.
    Ich habe nie zuvor und nie mehr danach so eine Reaktion erlebt. Selbst bei Maisie’s in Schottland und bei meiner Barfußnummer war es nicht so still. Ich räume ein, ich selbst war, da der Auftritt in der Woche nach der Trennung von Iris stattfand, nicht unbedingt in Festlaune. Aber auch das erklärte nicht die völlige Abwesenheit irgendeiner Reaktion. Nicht mal Mitleid gab es. Nun wusste ich, wie sich die Kapelle der Titanic gefühlt haben muss, als sie das Sinken des Schiffes musikalisch untermalte. Ich spielte zu meinem Untergang, nur im Gegensatz zur Schiffskapelle fühlte ich mich, als täte ich es in Unterhosen. Ich bin froh, trotzdem beruflich weitergemacht zu haben. Es macht Freude.
    Doch ich stellte zunehmend fest, im Grunde fühlte ich mich auch auf der Bühne immer noch wie beim Schreiben. Als Mogelpackung. Manchmal vergaß ich es einfach, aber jedes Mal, wenn ich auf Kollegen traf, deren Kunst ich bewunderte, kehrte das Gefühl mit Nachdruck zurück.
    Ich entsinne mich eines Wettbewerbs, bei dem ich zwei Kollegen begegnete, die offensichtlich ihre künstlerische Mitte gefunden hatten. Sie waren sehr freundlich zu mir, aber ich fühlte mich als nicht zugehörig, was das rein Künstlerische betraf.
    Nach wie vor, sagte ich mir, gab es in mir etwas zu entdecken, was auch ich als Kunst anerkennen konnte. Ich wusste nur nicht, wo. Selbst eine diesbezügliche Fragestunde mit einem der beiden Kollegen, die eine Nacht lang andauerte und eine volle Flasche schottischen Malt-Whisky das schützenswerte Leben kostete, brachte mir keine Erkenntnisse. Außer zu den mittelfristigen Auswirkungen von Balvenie. Letztere beinhalten übrigens Gedächtnislücken.
    Der Umstand, dass ich mich nicht als vollwertiger Künstler sah, erklärte vielleicht auch, warum es mir nicht schwerfiel, viele sogenannte »Galas« zu spielen. Das sind Auftritte vor geschlossener Gesellschaft, beispielsweise auf Firmenfeiern. Dort trifft die positive Tatsache, dass man seine gesellschaftskritischen Texte auch vor den Menschen präsentieren kann, die man damit gemeint hat, auf die negative Tatsache, dass diese sich das nicht selbst ausgesucht haben, sondern der Chef, und deshalb nur in den seltensten Fällen zuhören. Dafür sind Galas aber meist sehr gut bezahlt, was den Schmerz lindert.
    Ich habe alle Möglichen solcher Galas gespielt, vom Hinterzimmer im Restaurant vor zwanzig Geburtstagsgästen bis hin zum Kaisersaal der Münchner Residenz vor Wirtschaftsgrößen. Das alles war nicht immer angenehm, aber auch nicht furchtbar ehrenrührig. Und doch, selbst in diesem Beruf habe ich es mal wieder geschafft, mich schamlos oder, in diesem
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