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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin
Autoren: Sven Kemmler
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Helena.
    Ich dachte außerdem an all die Rheinschiffskapitäne, die die Loreley auf ihrem Felsen sitzen sahen und ruderlos in die Felsen rheinschifften. Und das noch nicht mal in Bangkok, sondern mitten in Rheinland-Pfalz.
    Eine Freundin schrieb mir die tröstlichen Worte: »Mir hätte so was nicht passieren können, denn mit zwei fremden Männern wäre ich nie mitgegangen.« Das beweist, dass der Rat von Freunden nicht immer hilfreich sein muss.
    Doch musste ich zugeben, wohl zeit meines Lebens hauptsächlich von Frauen inspiriert worden zu sein. Das ist ein ganz klassisches Vorgehen von Künstlern, die ja oft eine Muse haben. Man konnte also vermuten, dass ich deshalb nicht Künstler werden konnte, weil ich bereits einer war. Ich hatte gedacht, den Künstler in sich zu entdecken, sei so, wie die Berufung zu entdecken, oder die Frau fürs Leben. Diesen Vorgang hatte ich mir immer vorgestellt wie die Szene, als Henry Morton Stanley 1871 im schwarzafrikanischen Dschungel den vermissten Dr. Livingstone fand und mit den legendären Worten begrüßte:
    »Dr. Livingstone, I presume!«
    Mit Betonung auf dem »nehme ich an«. Doch sind Künstler, Berufung und die richtige Frau bei mir nie die einzigen Weißen in einem schwarzafrikanischen Dschungeldorf gewesen.
    Trotzdem glaube ich, besondere Begegnungen, besondere Berufungen und besondere Erkenntnisse erkennt man daran, dass es sich ein wenig wie ein Wiedersehen anfühlt, gleich beim ersten Mal. Man erkennt nicht nur, sondern man erkennt wieder. Das ist natürlich nur gefühlt, denn man kann nicht wiedersehen, was man noch nie gesehen hat.
    Allerdings trifft man umgekehrt bisweilen auch Menschen wieder, die man gesehen hat, nicht wiedersehen will und eigentlich auch nicht wiedersehen kann. Das geschah mir in Bangkok.
    Natürlich habe ich als guter Westeuropäer nach dem erlittenen Verlust meiner Habseligkeiten Anzeige erstattet. Denn falls die Polizei in Bangkok eine Uhr, ein Handy und Kreditkarten beschlagnahmen sollte, so wüsste sie aufgrund der Anzeige sofort, wem sie sie zurückgeben konnte.
    Hahahahahaha.
    Entschuldigung. Natürlich ist diese Hoffnung nicht wirklich begründet. Aber nichtsdestotrotz, so eine Anzeige mochte sich als nützlich erweisen, und sei es als Souvenir. Also eigentlich ausschließlich als Souvenir. Und wie es der Zufall wollte, direkt neben der sagenumwobenen Khao San Road in Bangkok befand sich ein Polizeirevier, in das ich mich vorwagte.
    Ich wurde gleich an einen Tisch geleitet, und hinter diesem saß »El Presidente«.
    Es war der Gefängniswärter aus Chiang Mai, da war ich mir sicher. Er war zwischenzeitlich nicht gealtert.
    Immer noch leicht speckig, (aber nicht pfannkuchenartig), wobei der Speck eine feste Konsistenz zu haben schien, ein kleiner Bauch und ein rundes Gesicht mit vereinzelten Pickel- oder Pockennarben. Als ich ihn anstarrte, ging mir die Möglichkeit durch den Kopf, dass die Pickelnarben von Experimenten in den Labors stammten, an die ihn seine Eltern mangels Geld verkauft hatten. Seine Augen ausdruckslos zu nennen, wäre immer noch in höchstem Maße untertrieben gewesen, was durch die komplette Abwesenheit jeglicher Mimik wieder beeindruckend betont wurde.
    Im Gegensatz zu den beiden Übeltäterinnen hatte ich vor diesem Gefängniswärter einen an Panik grenzenden Respekt. Mir gingen alle meine Drogendelikte seit damals durch den Kopf. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Ich lächelte mehr als freundlich, um wenigstens diesmal das Eis zu brechen, was seiner Reaktion zufolge recht debil ausgesehen haben muss. Auch Räuspern brachte mich nicht weiter. Schließlich stammelte ich irgendwas von »robbery, watch, mobile phone, creditcards, Khao San grmmpfflll«.
    Und in diesem Moment - ich bin mir ganz sicher - verdrehte er kurz die Augen. Zwanzig Jahre waren nicht umsonst vergangen, ich konnte ihn beeindrucken. Dann nickte er sehr müde und ließ sich von mir schildern, was passiert war.
    Ich erzählte ihm alles, worauf er für einen Augenblick, also für ein bis zwei Minuten, jegliche Lebensfunktion einstellte, mich dabei weiter musternd, und mich dann mit Diktaturgründungsblick aufforderte, zu berichten, was denn passiert war.
    Ich zog kurz die Möglichkeit eines Déjà-vu in Betracht.
    Aber sein Gesicht sprach Bände, Bände, in denen gestorben wird, und so erzählte ich ihm alles nochmal, als wäre nichts geschehen. Ich lächelte tapfer weiter, was ihn nicht wirklich fröhlicher stimmte. Immerhin, er holte einen
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